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Alle Jahre wieder kommt sie mal wieder auf, die Frage, meistens dann, wenn ein neuer Schüler der Klassengemeinschaft beitritt, der die Diskussion noch nicht mitgemacht hat: Wieso haben wir keine Schuluniformen? Ich kann dieser Idee einiges abgewinnen – Vermeidung von Sozialneid, Corporate Identity oder die ein-für-allemalige Beantwortung der Frage „Was ziehe ich heute an?“ – muss in der Klassenstunde aber immer darauf hinweisen, dass sich derzeit keine Mehrheiten dafür finden ließen – weder innerhalb des Kollegiums noch innerhalb der Schülerschaft, denn die kommt an dieser Stelle dann immer mit dem einen Argument: „Wo bleibt denn da die Individualität?“

Individualität, so scheint es, ist eines der höchsten Güter des Menschen, es teilt sich mit Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit die gemütliche Couch im VIP-Bereich der Grundrechte. Wer Individualität nicht zulässt, betreibt Gleichmacherei, erstickt Kreativität und Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, so lautet die gängige Anklage. Jede und jeder möchte also möglichst individuell, das heißt einzigartig und unterscheidbar von allen anderen sein?

Nichts könnte weiter entfernt von der Realität sein. Wenn man die Begriffe „Individualismus“ und „Konformismus“ in eine Suchmaschine eingibt, enthalten die meisten Treffer zusätzlich noch die Worte „oder“, „versus“, „gegen“, es scheint sich also um echte Gegenteile zu handeln. Paradoxerweise liegt im Individualismus moderner Prägung eine tiefe Sehnsucht nach Konformismus verborgen. Im Schulalltag lässt sich sich das am typischen Look der 2010er-Jahre beobachten, den Schülerinnen und Schüler ab ca. Klasse 9 tragen: schwarze Röhrenjeans, knapp über dem Knöchel endend, dass einen schon der Anblick frösteln macht, wahlweise an den Knien oder am Oberschenkel zerrissen, dazu weiße Sneaker. Wer es sich leisten kann – da isser wieder, der Sozialneid! – trägt Brands, die groß und breit auf der Oberbekleidung zu lesen sind. Der Herr trägt Undercut, die Dame offenes, mehr als schulterlanges Haar, die Augengläser sind rund mit Goldrand, das Zeitalter der Nerdbrillen neigt sich dem Ende. Individualismus sieht anders aus, oder? Und das sind nur die offenkundigen Beispiele, die der Lehrkörper jeden Tag im Doppeldutzend vor Augen hat – die Liste ließe sich endlos erweitern, und zwar mit Personen jeden Alters. Ja, ich meine euch, ihr Sternentattoobesitzer*innen, Retrofahrradfahrer*innen, Instagramjunkies! Wahre Individualität kann sich niemand leisten, bedeutet sie doch den Selbstausschluss aus der sozialen Gruppe, und das will nun wirklich niemand, besonders im jungen Alter nicht. Es geht nicht mehr ums Überleben wie in der Steinzeit, aber das Reptiliengehirn empfindet noch immer ein gewisses Unwohlsein, wenn sein Besitzer nicht Teil irgendeiner Gruppierung ist. Das Phänomen ist auch keineswegs neu – zu meiner Schulzeit waren es Doc-Martens-Schuhe und Kapuzenpullis – denn der Mensch hat sich bei aller Egoisierung und Maßgeschneidertheit doch immer ein Hintertürchen zur Masse offengehalten. Natürlich spricht das keiner aus, im Gegenteil, keiner will „wie die anderen“ sein. Unvergessen die Szene aus Monty Python’s „Leben des Brian“, in der dieser der Masse seiner Anhänger klarmachen will, dass sie unterschiedliche, selbst denkende Individuen sind: „Ihr seid alle völlig verschieden!“. Die Masse brüllt ihm daraufhin nach: „Wir sind alle völlig verschieden!“, nur einer hebt die Hand: „Ich nicht!“




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Eines aber scheint sich doch zu verändern: Die Nonkonformisten unter den Schülerinnen und Schülern werden weniger. Die Langhaarigen, die Gothics, die Computernerds (und damit meine ich nicht die allgemein verbreitete Spezies „Gamer“), die Kiffer, die Skater, die Punks, kurzum: alle, die wahre Individualität lebten, die ihr Anderssein immer und überall am Revers trugen – wo sind sie hin? Ist ihre individuelle Identität dem Diktat des Konformismus zum Opfer gefallen? Sind wir schon längst alle gleicher geworden als wir je wollten?

Dann her mit den Schuluniformen. Das wäre nur konsequent.