„Letzte Stunde vor dem Leben“ (Folge 143)

This version of you
Simply becomes real

And you're right here with this version of you

To see things as they really are
This version of you looking at you
You looking back
This version of you welcoming you

This version of you saying, "Yes"

I'd like you to imagine
This version of you

- Odesza, This version of you

Eigentlich liebe ich letzte Stunden. Also nicht letzte Stunden vor den Herbstferien. Die sind einfach nur nervig – das Schüler*innenpublikum möchte die nahende Freizeit gern mit ein wenig außerunterrichtlichem Unfug zelebrieren, koste es, was es wolle – man spielt zur Not sogar des Paukers pädagogisch wertvolle Spielchen mit. Nein, ich rede von der letzten Stunde ever. Das ist die Stunde, nach der man ein wenig ratlos auseinandergeht, in der Gewissheit, dass man nie wieder in dieser Zusammensetzung mit diesem Wissensstand so zusammensitzen wird, nicht wahr, Heraklit?

Bild Mr. HO 134kl

Auch da gibt es Unterschiede: Der Oberstufen-Grundkurs nimmt’s sportlich, die wenigen anstandshalber noch Anwesenden können die Tränen gerade noch zurückhalten. Zu jubeln traut man sich aber auch nicht, das wäre auch irgendwie pietätlos, auch wenn die inneren Sektkorken natürlich längst knallen. Also sanftes Lächeln, Daumendrücken fürs Abitur, macht was draus, tschüss! Und weg sind sie.

Aber der Abschied von der eigenen Klasse, vom eigenen Tutorium ist eine ganz andere Hausnummer. Es beginnt harmlos mit einem Frühstück, der Tutor spendiert die Brötchen, die Tutand*innen die Beläge. Sogar eine Torte wurde von einer Schülerin gebacken. Schlemmeralarm um acht Uhr morgens. Ein Fest, das kein Ende nehmen will. Erinnerungen aus dem gemeinsamen Schulleben werden hervorgekramt, die Stimmung ist gelöst.

Und dann wage ich das Experiment. Eines meiner Rituale im Kurs auf erhöhtem Niveau sind die sogenannten drei Fragen. Diese sind echte W-Fragen, sie vermeiden absichtlich jeglichen Operator, dass es den Fachleiter grausen lässt. Und sie sind niemals etwas zum schnöden Ausrechnen – stattdessen soll verallgemeinert, weitergesponnen, um die Ecke gedacht werden. Was wäre wenn? Gäbe es das auch? Wie sähe es aus, wenn…? Ich liebe diese Fragen, vor allem, weil ich fast jedesmal zugeben muss, dass ich selbst nicht gründlich genug darüber nachgedacht habe und dann beim Schwierigkeitsgrad doch etwas zurückrudern muss. Über die Beliebtheit beim Publikum kann ich nur spekulieren.

Heute aber wird der Spieß umgedreht: Jeder und jede aus dem Kurs darf mir drei Fragen stellen, schriftlich auf einem DIN-A6-Blatt. Wir wollen ja nicht übertreiben. Damit das Ganze nicht nur zum heißen Stuhl für Fachfragen wird, biete ich schnell an, auf alles Mögliche antworten zu können, schließlich sei ich Lehrer und wisse deswegen ohnehin alles. Okay, im nächsten Leben werde ich Standup-Comedian.

Und schon geht es los, das heitere „Ask me anything“. Was soll schon passieren?

Erste Frage: Wie lautet der dritte Hauptsatz der Thermodynamik? Oh mein Gott, schon bin ich blamiert und muss improvisieren, schwafle etwas von Durchschnittstemperaturen und so, wie auch immer, nächste Frage bitte: Ob immer ein Kreis im Spiel sei, wenn die Zahl Pi irgendwo auftauche. Hammerfrage. Und diesmal kenne ich eine Antwort (Link zu YouTube). Aber die Mathefragen sind längst nicht so zahlreich wie ich dachte. Man testet mich nun auf allen Gebieten: Geschichte („Wie ist die Weimarer Republik entstanden?“), Fantasyliteratur („Wie viele Ringe gibt es im Herr-der-Ringe-Universum?“), Fremdschämen („Sind Sie schonmal betrunken zum Unterricht gekommen?“), Politik („Was ist das Problem am Weltsicherheitsrat?“), Geographie („Was ist die Hauptstadt von Südkorea?“) und sehr viel Persönliches: meine Abinote, meine peinlichste Lebensphase, mein Sinn des Lebens, das Buch, das ich jedem empfehlen würde, ein Ereignis, das ich gerne noch einmal erleben würde, ob mich ein Schüler schonmal zur Verzweiflung gebracht habe, ob ich lieber bis an mein Lebensende die römische Fischsauce Garum essen oder die lernäische Hydra mit nichts als meinem Wissen bekämpfen würde. Und immer wieder: Thermodynamik. Scheint so ein Ding zu sein.

Und dann, wie passend, die letzte Frage: Was war mein Lieblingsereignis mit dem Kurs?

Ich muss nicht überlegen: genau dieser Moment. Und alle Momente, in denen wir mal keine uneigentlichen Integrale berechnet, Gleichungssysteme ohne Rechner gelöst oder Flugbahnen miteinander gekreuzt haben. Der Abschied ist perfekt. Zum Glück läuft nun nicht „Bittersweet symphony“ im Hintergrund. Das wäre dann doch des Guten zu viel gewesen.