Der spanische Eroberer Hernán Cortés gründete im Jahr 1519 die erste spanische Siedlung auf dem amerikanischen Kontinent. Mit naturgemäß üblen Begleiterscheinungen für die indigene Bevölkerung, die bei solchen Geschichten über die europäischen Entdecker gerne im Hintergrund gelassen werden. Bemerkenswert ist jedoch Cortés‘ folgender Move: Nachdem er mit seinen Schiffen an der Küste gelandet war und alles an Ausrüstung ausgeladen war, ließ er die Schiffe zerstören. Warum? So nahm er sich doch selbst die Möglichkeit zur Rückkehr, falls seine Stadtneugründung scheitern sollte oder er vom Statthalter der spanischen Krone auf Kuba zurückgepfiffen worden wäre!

Und genau das war sein Gedanke: Dieses Unternehmen muss gelingen und es kann nur dann gelingen, wenn jeder einzelne weiß, dass dies die einzige Möglichkeit ist! Keine Option zum Rückzug, keine Hintertür, keine Exitstrategie.

Fünfhundert Jahre später. Cortés‘ Abbruchstrategie hat sich nicht durchgesetzt, im Gegenteil: Der Zeitgeist diktiert, dass man sich besser immer mehrere, ach was, alle Optionen offenhält. Geld-zurück-Garantie, falls der neue Joghurt doch nicht schmecken sollte. Urlaub, der bis eine Woche vor Termin kostenlos stornierbar ist. Datingapps für alle Lebenslagen – du bist in einer Beziehung? Schau doch schonmal nach dem oder der nächsten…!

Bild Mr. HO

Und dann natürlich die Arbeit. Da möchte man natürlich möglichst breit aufgestellt sein, mehrere Standbeine haben oder Eisen im Feuer, auf jeden Fall job-, orts- und zeittechnisch mega flexibel und vielseitig einsetzbar sein. Denn man möchte ja möglichst erfolgreich und finanziell abgesichert ins Berufsleben starten. Das war das Mantra der Abschlussklassen und gleichzeitig der Hebel für alle Lehrkräfte: Sieh zu, dass du deine Noten verbesserst, damit du dir später den Beruf aussuchen kannst!

Denn der Markt ist voll von superqualifizierten jungen Leuten, da musst du mithalten!

Was durchaus für einigen Stress sorgen konnte: Dritte Fremdsprache? MINT-Zertifikat? Jugend forscht? FSJ, um die Sozialkompetenz hervorzuheben? Was könnte der Markt morgen fordern? Statt zerstörter Schiffe und dem einen Weg zum Ruhm nun also jede Menge Schiffe, die alle bald ablegen und auf denen man sich am besten mehrere Plätze sichert, um sicherzugehen, dass man mitfahren wird. Das war das Mindset der Neunziger.

Und nun, einige Jahre später, stellt sich die Situation anders dar. Wer einen Schulabschluss erwirbt, hat noch immer die Qual der Wahl, wo er oder sie sich in Zukunft beruflich niederlassen möchte – allerdings ist der Konkurrenzdruck – je nach Branche – doch erheblich gesunken: Musste man früher Bewerbungen im zweistelligen Bereich versenden, in denen man jeweils dem Adressaten versicherte, man würde bei seinem Unternehmen ganz besonders gern arbeiten und hätte es ganz individuell ausgewählt, so ist die Stoßrichtung heute umgekehrt: Betriebe betteln um Auszubildende, legen noch einen Führerschein oder eine Kreuzfahrt oben drauf, wenn man sich für sie entscheidet, werben mit sehr sehr flexiblen Arbeitszeitmodellen, Homeoffice, Sabbatical – im Grunde müsste man eigentlich gar nicht mehr kommen zum Arbeiten. Das kommt der Gen Z sehr entgegen, die das „Life“ in Work-Life-Balance eindeutig groß schreibt. Wobei schwer auszumachen ist, was hierbei die Henne und was das Ei ist. Jedenfalls tut sich hier für die Abschlussschülerschaft ein neuer Wald aus Möglichkeiten auf – und wieder will gut überlegt sein, wofür man sich am Ende entscheidet. Und das fällt ihnen zunehmend schwerer: Sich entscheiden, das heißt, sich festlegen auf ein Ziel und dieses Ziel dann bis zum Erfolg verfolgen – das verschieben viele immer weiter nach hinten, so dass sie auch mit dem Abizeugnis in der Hand noch ins Stottern kommen, wenn die Frage aufkommt: „Und, wie geht’s jetzt weiter?“ Und ich vermisse ehrlich gesagt auch meinen Hebel, denn womit kann man schon drohen, wenn da die personifizierte Lustlosigkeit vor einem auf den Bänken lümmelt? „Pass auf, sonst wirst du später nur…Quereinsteiger im Lehrberuf! Da wirst du schon sehen, was du davon hast! Jaha!“

Bisher dachte ich, Berufsorientierung, das bedeutet, den Schüler*innen möglichst ausführlich nahezubringen, welche Möglichkeiten es nach dem Abschluss alle gibt. Damit dann jeder und jede für sich die richtige Entscheidung treffen kann. Besser wäre aber, auf der Basis von Fähigkeiten und Interessen schon frühzeitig ein paar Wege auszuschließen. Cortés würde sagen, an ein paar Schiffe die Fackel legen.

„Okay, ich spüre bei dir eine generelle Antipathie gegen Menschen. Lass uns den gesamten Bildungs- und Servicebereich schonmal ausschließen.“ Und dafür andere Wege gut auszuschildern: „Du bist sehr gut darin, Daten zu analysieren und Muster zu erkennen. Vielleicht wartet eine Karriere in der Statistik auf dich.“ Und wenn du genug davon hast, nur auf Zahlenkolonnen zu starren, kannst du immer noch Mathelehrer werden!