Ich blicke auf die Uhr, es ist Neun Uhr Dreißig. Immer noch.
„Was ist denn los?“, will die wohlmeinende Kollegin wissen.
„Ach nix“, winke ich ab, „ich schreib nur gleich Klausur in Zwölf.“
„DU schreibst also die Klausur? Das ist ja nett von dir, dass du deinen Schülern das abnimmst!“
Ach ja, ich vergaß. Lehrkräfte lieben es, Wörter auf Goldwaagen zu legen. Und den Fuß auch noch mit drauf zu stellen.
Aber trotzdem fühlt es sich irgendwie immer ein bisschen so an, als würde ich die schriftliche Prüfungsleistung im Unterricht der Oberstufe erbringen, nicht die in Angstschweiß gebadete Schülerschaft.
Schon bei der Vorbereitung ergreift mich die Unsicherheit, als wollte ich Frankensteins Monster zusammenlöten: Entspricht das hier den Genfer Konventionen? Sind alle Anforderungsbereiche enthalten und AFB III nicht zu doll? Könnte man mich dafür vor ein Kriegsgericht stellen? Ist da irgendwo eine zweite Ebene drin, die man als Schüler*in übersehen könnte? Ist die erste Aufgabe wirklich die Pillepalle, als die ich sie sehe, oder würde sich dem unbedarften Prüfling da unvermutet ein Abgrund auftun?
All diese Selbstzweifel schweigen auch dann nicht still, wenn das Machwerk längst das Licht des Kopierers erblickt hat und in neunundzwanzigfacher Vervielfältigung ready to go auf den Pulten liegt. Schlimmer noch: Jetzt kann man ja nichts mehr ändern! Jetzt muss man die Bremse einfach nur loslassen und das Schiff auf See schicken.
Leicht gesagt! Denn man ist ja angehalten, die Kinderlein bei ihren Bemühungen zu beobachten, um etwaige Täuschungsanbahnungen zu vereiteln. Und da lässt es sich manchmal kaum vermeiden, das blanke Entsetzen in den Gesichtern zu betrachten. Abgasartiges Ausatmen. Dramatisches Durchstreichen. Zorniges Zerknüllen. Zum Glück vermeide ich es, während des Schreibprozesses Blicke auf Halbfertiges zu werfen wie damals mein Lateinlehrer. Schwer zu ertragen wäre das, zu sehen, wie vor meinen Augen gerade live ein kognitiver Auffahrunfall passiert. Also schnell wieder auf den Platz da vorne und den strengen Blick leuchtturmgleich kreisen lassen: Ja, Svenja, ich sehe deine üblen Machenschaften, doch du wirst damit niemals durchkommen, denn wenn du noch eine Zehntelsekunde länger so tust, als würdest du ins Leere starren, in Wirklichkeit aber einen Blitzabgleich mit Florians Aufgabe Zwei durchführst, dann werde ich über dich kommen wie der Racheengel Gottes und das Papier, das dann nur noch den Wert Null haben wird, vor aller Augen verbrennen!
Doch Svenjas Augen biegen gerade noch rechtzeitig ab und flüchten zum Fenster, wo die Gedanken frei sind. Für diesmal bist du mir entkommen, aber ich kann warten…
Ist dann irgendwann sämtliches Geschreibsel bei mir gelandet, beginnt der wirklich spannende Teil: die Korrektur, zu deutsch: Berichtigung. Ich dachte immer, das wäre später Sache der jungen Leute, aber nun ist es mein Job. Offenbar geht man stillschweigend davon aus, dass JEDE Arbeit irgendeinen Fehler enthalten wird, den es in Rot anzuprangern gilt – und ich glaube, bis heute hat man damit Recht behalten.
Es könnte also ein Fehlersuchfestival werden – doch sollte man nicht zu viele finden, denn als Instrument der Qualitätssicherung des Unterrichts hat man festgelegt, dass in der Oberstufe maximal die Hälfte der Schülerarbeiten unter dem berühmten Strich liegen darf. Denn sonst stehen nur drei Optionen zur Verfügung. Nummer eins: Der ganze Klumpatsch wird wiederholt, worauf inklusive mir selbst nur sehr selten jemand wirklich Bock hat. Nummer zwei: Nach reiflicher Überlegung komme ich zu dem Schluss, dass meine Erwartungen zu hoch waren und korrigiere sie dementsprechend nach unten. Und Nummer drei: Der Gang nach Canossa mit der Bitte um Absolution für den verursachten Murks.
Im heimischen Kabuff beginne ich daher dann mit der rituellen Selbstkasteiung: Ich lege zwei Stapel für fertige Arbeiten an – bestanden und nicht bestanden – und sehe mit Grausen zu, wie der linke wächst. Jeder neue Name auf dem Klausurblatt lässt mich bangen. Es ist ein bisschen wie bei der Auszählung der US-Präsidentschaftswahlen: Am Ende möchte man, dass die blauen Staaten in der Überzahl sind, sonst drohen Zeter und Mordio. Frohen Mutes nehme ich also Pias Arbeit in die Hand. Pia ist so etwas wie Kalifornien. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn sie es nicht schaffen würde. Und das tut sie dann auch. Dann aber: Wechselbad der Gefühle, denn Torben ist der nächste. Texas. Hat’s praktisch noch nie geschafft, müsste schon einen perfekten Tag erwischt haben, damit…nein, doch nicht.
Auf einmal sind nur noch fünf Kandidaten übrig, alles Swing States, extrem schwer vorherzusagen. Beide Stapel sind ungefähr gleich stark, die Situation spitzt sich zu. Celina startet gut, holt aus den ersten drei Aufgaben fast alle Punkte, ich möchte schon frohlocken – da ist die Arbeit auf einmal zu Ende! Abbruch auf dem Höhepunkt des Geschehens! Kein einziger Punkt aus den Aufgaben vier bis sechs. Grande Catastrophe! Celina wandert auf den roten Stapel.
Am Ende steht es vierzehn zu vierzehn und es ist nun an Jannik, die Sache für die Demokratie zum Guten zu wenden. Diese Klausur wird aus Prinzip stehend korrigiert! Leichte Unsicherheiten zu Beginn, aber das muss nichts heißen, es gibt immer noch die Aufgabe vier, da ist noch einiges zu holen. Durchatmen – er hat die Punkte. Hoffentlich ist er noch bis Nummer sechs gekommen – ja, sieht gut aus. Flapsig formuliert, das ist der Zeit geschuldet. Komm schon, Jannik, mach ihn, mach ihn – ER MACHT IHN! Gerade so über die Ziellinie, aber was für ein Spirit!
Lachend und weinend zugleich unterschreibe ich das letzte Blatt. Wieder einmal hat die Pädagogik gesiegt!