Ich muss dieses Polynom jetzt faktorisieren. Nützt nix. Ich brauche das für die nächste Unterrichtsstunde.

Ich will euch nicht mit mathematischen Details aufregen – aber um eine Vorstellung zu bekommen: Das ist so, als ob einem Tischler sein Zimmermannsbleistift stumpf geworden ist und er den jetzt mit dem Cuttermesser anspitzen muss. Lästig, aber unvermeidlich.

Und der Tischler hat auch keinen elektronischen Bleistiftspitzer, also warum sollte ich…?

Hey, ich habe ja einen elektronischen Polynomfaktorisierer! Dankbar ergreife ich also die digitale Krücke und logge mich bei ChatGPT ein. Ich sollte zu diesem Zeitpunkt nicht noch ahnen, dass mich der ganze nun folgende Vorgang mehr Lebenszeit kosten wird als wenn ich es händisch gemacht hätte.

Im Dialog mit der Maschine bitte ich freundlich (denn wir wissen alle nicht, woran sich die KIs erinnern, wenn sie uns dereinst überrollen werden) um eine Lösung für mein Problem.

Bild Mr. HO 160

„Gerne helfe ich dir!“, entgegnet der Automat und legt los. In gewohnter blitzschneller Manier testet er einige Nullstellen durch und präsentiert mir am Ende eine strahlende Lösung. Ich überfliege seine Bemühungen und bleibe an einer Rechnung hängen, die in etwa 24 + 27 – 24 = 0 lautet. Was, frage ich mich, ist nochmal die Kernkompetenz eines Rechners? Ach ja, RECHNEN! Aber warum gleich aus der Haut fahren – wir geben Chatty (mein informeller Spitzname für ihn, äh…es) eine zweite Chance und weisen ihn auf seinen Fehler hin.

Ich muss mir daraufhin wortreiche Entschuldigungen anhören, gefolgt von einem zweiten Versuch, der genauso sauber aussieht, aber genauso falsch ist. Jetzt habe ich Puls. Der WILL es einfach nicht kapieren, scheint mir. Und da sehe ich seinen Fehler: Er geht davon aus, dass die Lösung aus ganzen Zahlen besteht, also Zahlen, die kein Komma hinter sich herziehen. Aber wie die Realität so spielt, ist nicht immer alles schön gerade, rechtwinklig und ganzzahlig. Ich teile meine Erkenntnis mit Chatty und frage mich im selben Moment, wer hier eigentlich wem helfen soll.

Von dem genialen Mathematiker Alan Turing, der noch weit entfernt vom KI-Zeitalter war, stammt ein Gedankenexperiment: Wenn ich ein Gespräch per Computer führe und aus dem Gesprächsverlauf nicht sicher ableiten kann, ob am anderen Ende ein Mensch oder eine Maschine sitzt, dann kann ich davon ausgehen, dass ich es mit echter künstlicher Intelligenz zu tun habe. Der sogenannte Turing-Test.

Bei mir in meiner Notlage ist es umgekehrt: Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob am anderen Ende meiner Leitung nicht in Wirklichkeit ein sehr selbstbewusster, aber weitgehend ahnungsloser Schüler* sitzt. Den erreichen meine Denkanstöße auch nicht sofort, er kann aber in kurzer Zeit viel Text produzieren. Und er kann wie ein Weltmeister Erkenntnis simulieren: „Ah, ich habe meinen Fehler erkannt! Jetzt weiß ich es!“ Du weißt gar nichts, Jon Schnee.

Bei allem technischen Fortschritt, das wird mir schmerzhaft bewusst, kommt man (noch) nicht umhin, auch mal den einen oder anderen prüfenden Blick auf KI-Ergebnisse zu werfen. Bei einer anderen Gelegenheit gab ich Chatty eine in Cäsar-Chiffre** verschlüsselte Botschaft, um zu sehen, ob er sie in Klartext verwandeln könnte. Ergebnis: Es wird wild drauflosgeraten („die Nachricht lautet: HALLO ERDE HIER IST ALPHA“) und selbst als ich die Lösung (die Verschlüsselungsart) preisgebe, ist die KI nicht in der Lage, sie auf den Code anzuwenden.

Zurück zum Polynom: Mit viel Einhilfe löst das vermeintliche Superhirn letztendlich mein Problem (oder war ich es?) und – anders als mancher Schüler bedankt es sich am Ende sogar für die gute Zusammenarbeit!

Dennoch wird der Apparat im Kollegium größtenteils mit Argwohn beobachtet, gerade wenn es um die Anfertigung eigenständiger Arbeiten geht. Zum Glück sind Lehrkräfte kreativ und finden im Pausengespräch nach nur einem Kaffee die Lösung: Geben wir Chatty zu lesen, was uns die Schüler*innen als ihr eigenes Produkt anvertrauen! Lassen wir The Brain prüfen, ob das eventuell von ihm selbst geschrieben wurde! Und wo wir gerade dabei sind: Eine inhaltliche Korrektur, Überprüfung von Quellen und Rechtschreibung sollte doch auch kein Problem sein, oder? KI schreibt, KI prüft, KI verbessert, KI prüft erneut… eine unendliche Feedbackschleife, die uns alle vom lästigen Teil des Bildungssystems befreit!

Herrlich.

Furchtbar.

 

* Gendern ist hier leider (oder zum Glück?) unnötig: Die Schülerinnen, die ich bisher erlebt habe, neigen allesamt zur Tiefstapelei.

 

** eine einfache Art, Texte zu verschlüsseln, indem man Buchstaben durch Alphabetverschiebung ersetzt (z.B. A = D, B = E, C = F,…)