Der Geist einer Sprache offenbart sich am deutlichsten in ihren unübersetzbaren Worten.

Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

 

Wer eine Sprache benutzt, tut das, um seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten nationalen, ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Gruppe zu demonstrieren. Okay, und um etwas mitzuteilen. Der Pluralismus des 21. Jahrhunderts hat indes wie auch auf anderen Feldern dafür gesorgt, dass es längst nicht mehr „die“ Sprache gibt, sondern ein weitverzweigtes Netzwerk aus Dialekten, Jargons, Slangs und Codes, in dem jeder seinen eigenen Mikrokosmos finden kann. So liberal, wandelbar und durchlässig dieses Netz nach außen hin auch wirken mag, so radikal sind seine Zellen im Innern. Jemand wie Bastian Sick, der sich über falsche Kommasetzung echauffieren kann und das Wörtchen „einander“ als Pate adoptiert hat, kommt noch als knuffiger Deutschlehrer-Typ daher – in anderen Kreisen sieht sich ernsthaften sozialen Sanktionen ausgesetzt, wer gegen die Sprachregeln der Subkultur verstößt.

An unserer Schule gibt es keine Hausaufgaben – stattdessen werden Übungsaufgaben angefertigt. (Es soll jedoch rebellische Subjekte unter der Schülerschaft geben, die dies innerhalb der heimischen vier Wände tun.) Das Schuljahr teilt sich in zwei Schulhalbjahre und wehe dem, der hier die Vorsilbe weglässt! Klassenarbeiten sucht man bei uns vergebens – dafür stehen Tests auf dem Plan. Bald wird es auch keine Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer mehr geben – sie alle werden ersetzt durch Tutorinnen und Tutoren. Der gute alte Klassenlehrer ist dann genauso ein Unbegriff wie der A- bzw. B-Kurs, der jetzt G- bzw. E-Kurs heißt, was zumindest phonetisch eine deutliche Verschlechterung darstellt („Geeh?“ – „Nein, Eeh! Eeh wie Eehmil!“), wenn auch inhaltlich eine Lanze für die untere Kategorie gebrochen wurde, müssen sich doch die G-Kursschülerinnen und –schüler jetzt nicht mehr zweitklassig fühlen. Die Umstellung auf den neuen Begriff fällt dem alteingesessenen Lehrkörper naturgemäß schwer („Der Schüler ist aus dem B- in den E-Kurs gewechselt.“), doch zum Glück wird man hin und wieder auf seine Ausdrucksfehler hingewiesen.

Wer stur weiterhin die alten Begrifflichkeiten verwendet, dem hängt der Ruch des Ewiggestrigen, Unbelehrbaren, gar Renitenten an. Der nach altem Gymnasium müffelnde Leistungskurs musste dem politisch korrekten Kurs auf erhöhtem Anforderungsniveau weichen wie die alkoholgeschwängerte Druckmatrize dem Highspeed-Laserdrucker.

Und das Tempo der Sprachevolution zieht an: In der Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe (jaja, so und nicht anders!) spricht man aus unerfindlichen Gründen zum Beispiel schon vom gesellschaftswissenschaftlichen Schwerpunkt, nicht mehr vom ebensolchen Profil. Orwells Geschichtsbuchumschreiber müssten Überstunden machen.

Die Königsdisziplin des Schuljargons aber sind die Abkürzungen: Die Kunst hierbei besteht darin, aus dem Begriff, den man verklausulieren will, gerade die Buchstaben zu wählen, so dass das Ergebnis ein aussprechbares, vielleicht sogar irgendwie sinnvolles deutsches Wort ergibt. So wird die schulinterne Lehrerfortbildung zur SchiLF, selbstgesteuertes Lernen firmiert unter dem Kürzel SegeL (hier machen sich Außenstehende doch arge Gedanken über die praktische Relevanz, wenn sie hören, dass das gesamte Kollegium zur „Segel“-Fortbildung abkommandiert wurde!). Und ja, natürlich kommen dabei solche Sätze heraus wie dieser: „Wir segeln im Schilf!“ Mit ähnlich effektiven Resultaten (die Älteren erinnern sich).

Da möchte man dem lernentwicklungsberichtgeplagten Pädagogen am Ende des Schuljahres doch aufmunternd zurufen: „LEB doch endlich!“