So. Die halbe Hundert ist voll. Probezeit absolviert, geprüft und für gut befunden, sattelfest und seetüchtig. Jetzt wird mal richtig vom Leder gezogen. Das hier geht raus an die Maschinisten des Wahnsinns – die KMK, 16 Personen mit mindestens 18 Vorstellungen von guter Bildung und Schulpolitik, manchmal jedoch Lichtjahre entfernt von guter Bildung und Schulpolitik. Sie haben auch diese meine Lehrerkarriere zu verantworten, wie der folgende Schnelldurchlauf zeigen wird. Gib mir einen Beat, DJ.
Wenn sich der Gedanke, Lehrer zu werden, das erste Mal im Hypothalamus niederlässt, sei es aus Mangel an Ideen für den beruflichen Werdegang, sei es aus unbewusster Sehnsucht nach schulischer strukturierter Routine, sei es vielleicht sogar aus entbrannter Inspiration, dann ist die Universität erste Anlaufstelle des künftigen Superpädagogen (denn darunter macht man’s natürlich nicht). Erster Herzkasper in der Anfängervorlesung: „Vergessen Se alles, was Se über Vektoren in der Schule gehört haben. Et is janz janz anders. Ach, und übrigens. Schau’n Se mal nach links und rechts…“ Ihr wisst, wie es weitergeht.
Es folgt die erste Sinnkrise und das Infragestellen der Hochschulstudienordnung: „Warum zur Hölle soll ich das lernen?! Das brauche ich doch nie und nimmer in der Schule!!“ Doch natürlich drehen sich die Windmühlen des Wahnsinns weiter und man stemmt sich tapfer gegen Algebra, moderne Mythentheorie und geschlechtsspezifische Sozialisation – nur her mit den Scheinen, ich will hier raus! Fast schon gewillt, auszusteigen, geht man ins erste Praktikum, schnüffelt nur kurz am (Schul-)Stoff – und ist sofort wieder voll druff. Herkules musste auch durch die Unterwelt, vor mir liegt nur das läppische Examen! Dann der Super-GAU in Papiergestalt, ersonnen von Menschen, denen jeder pädagogische Sinn abgeht und die eine mündliche Prüfung mit der Frage beginnen (!), welchen tieferen Sinn die Auflösbarkeit von Gruppen für die gesamte Algebra habe. Schluchz, heul!
Doch kaum ist der letzte Angstschweiß aus dem Prüfungshemd gewrungen, da klopft es schon von allen Seiten boshaft schmunzelnd auf die Schultern: „Viel Spaß im Ref!“ Mir schwant Übles.
Doch das Referendariat, von vielen als neuzeitliche Version der Spanischen Inquisition geschmäht, entpuppt sich als erstaunlich annehmbar. Sämtlichen Ballast der Alma Mater über Bord geworfen, kann man nun endlich „was mit Menschen“ machen und praxisnah arbeiten. Da blickt man auch mal darüber hinweg, dass man allen Ernstes gezwungen wird, vier Stunden Arbeit in eine Schulstunde von 45 Minuten zu stecken und darüber hinaus noch haarklein schriftlich zu erläutern, warum man gerade diese und jene Methode NICHT anwendet! Kleines Potpourri nach Gedächtnisprotokoll: „…ich beschränke mich jetzt mal nur auf drei Aspekte des besuchten Unterrichts…“ „…der Übergang von Phase 3a zu 3b war nicht ganz schlüssig…“ „…Sie hätten für eine breitere Beteiligung sorgen müssen…“ „…das Rot der Arbeitsblätter war viel zu aggressiv…“ Aha, interessant. Wieviele Stunden unterrichten Sie doch gleich an Ihrer Stammschule? Acht? Vier? Ach, gar nicht mehr?
Gelegentliches Aufbäumen gegen ein System, das diejenigen mit minimaler Praxis zu maximalem Kritikerstatus erhebt. Gerne hätte ich auch nur eine einzige Stunde bei einem von ihnen hospitiert und bewundert, wie das Gruppenpuzzle wirkungsvoll gemeistert wird und die Umgruppierung beim Ausgleiten der Übungsphase in die Partnerarbeit geräuschlos vor sich geht. So verbringt man anderthalb Jahre mit Blicken in sphingenhafte Fachleitergesichter, die nicht die leiseste Andeutung einer Bewertung, gar in Zahlengestalt, erkennen lassen, bis am Tag des zweiten Examens dann die Maske fällt, gefolgt vom Vorhang, denn ihr wisst genau: Die Show ist vorbei, jetzt lernen wir das alles noch mal von vorne, und zwar richtig! Im Ernst: Nicht als Schüler, nicht als Student, nicht als Referendar, sondern erst als Lehrer habe ich die Satzgliedanalyse im Lateinischen oder den Sinn linearer Abbildungen in der Algebra richtig verstanden. Ganz zu schweigen vom Führen einer Klasse, dem binnendifferenzierten Aufbau des Unterrichts oder der Planung einer Klassenfahrt. Womit wieder einmal die Binse bewiesen wäre, dass, wer etwas wirklich verstehen wolle, dies unterrichten solle. War der ganze Zirkus am Ende nur ein Selektionsprozess des Kultusministeriums? Nur die Harten dürfen starten?
Ironisches langsames Klatschen. "Sehr gut, Mr. HO. Sie haben es kapiert. Und nun wollen wir doch nicht länger darüber reden, finden Sie nicht auch?"