Gelangweilt lungert die Meute im Zwischengang. Hierher, in den naturwissenschaftlichen Trakt, verirren sich meist nur diejenigen, die dazu gewungen sind. Niemand kommt heute vorbei, den man dissen kann. Kein Guthaben mehr auf dem Handy, schade, aber auch egal, hier ist sowieso kein Netz.
Plötzlich rucken Köpfe. Das Rudel hat Witterung aufgenommen. Er kommt.
62 Jahre, gestandener Studienrat, so sieht er sich selbst gern, doch beim Anblick der Jugendlichen befällt ihn kalter Schweiß. Einer steht vor dem Schlüsselloch, provokant, geht auch nicht zur Seite, als der Lehrer mit zittrigen Fingern sein Schlüsselbund aus der Jackettjacke fummelt. Unmerklich rücken die anderen von hinten auf, es wird eng. Schon haben sie ihn das erste Mal eingekeilt. Endlich löst der Türsteher mit einem Grinsen die Situation auf und gibt den Weg frei. Wortlos lässt sich die Gruppe auf den hinteren Tischgruppen nieder, während der Pädagoge vorne das viel zu dicke Lehrbuch, er hat es immer gehasst, viel zu kompliziert und voller Fehler, aus der speckigen Ledertasche zieht und dabei fünfzehn lose Blätter mit hinausbefördert, die er umständlich vom glatten Boden aufklauben muss, während er die bohrenden Blicke spürt. Seine Schwäche haben sie von Anfang an gerochen, jetzt den starken Mann zu spielen ist eine Illusion, der er sich hingibt. Wenn er wollte, dann könnte er. Würde er auch.
Ob man dann die Hausaufgabe vom Donnerstag besprechen könne? Quälend langsam senken sich einzelne Arme in Rucksäcke, um mit viertelbeschriebenen Karoblättern wieder daraus hervorzukommen.
Ob Martin mal vorlesen könne? Martin zuckt mit den Schultern. Wie er denn das zu deuten habe? Etwa als nicht angefertigte Übungsaufgabe? Erneutes Schulterzucken. Demonstratives Klicken mit dem Silberkuli und Eintrag in den Notenplaner. Kopfschütteln und Schmunzeln bei Martin. Das solle er ruhig mal ernst nehmen!
Er fühlt sich wie ein alternder Löwe, zahnlos, vom Rudel getrennt, der den Hyänen begegnet ist. Er brüllt, doch die wissen genau, das ist Drohkulisse, dahinter ist nichts, aber auch gar nichts. Er sitzt in der Falle. Sie werden die nächsten Minuten damit verbringen, ihn mürbe zu machen. Reizen und zurückziehen. Immer wieder. Bis er sich so sehr verausgabt hat, dass sie mutiger werden können. Ihn zum offenen Gefecht herausfordern.
Er geht durch die Reihen, ereifert sich über soviel Ignoranz. Zwanzig von Siebenundzwanzig ohne Aufgaben! So könne das nicht weitergehen!
Kurzes Weiten der Krawatte, Blick zur Tafel, diesen Triumph gönnt er ihnen nicht. Die Finger wollen kaum noch gehorchen, als sie Folie und Papier voneinander trennen sollen. Der Overheadprojektor reagiert nicht, selbst die Technik hat sich gegen ihn verschworen. Doch dann gewinnt er Fassung zurück: Es ist nur das Kabel. Ob Lena es wohl einstöpseln könnte? Lena kann, doch vor seinem inneren Auge ziehen Äonen vorbei, bis der Stecker endlich sein Ziel findet. Dann erhellt graugrüner Schimmer den Raum. Meiose und Mitose, gebannt auf Celluloseacetat für Generationen. Dass die Überschrift nicht Sütterlin ist, ist auch alles.
Was denn dort zu sehen sei? Bleiernes Schweigen. Mit letzter Kraft ringt er sich ein aufmunterndes Lächeln ab. Ein bisschen Fantasie dürfe er doch voraussetzen. Dann hat er es bemerkt. Die Hyänen haben den Kreis geschlossen. Die Blicke aller sind nicht auf die Wand gerichtet, sondern auf ihn. Niemand blinzelt. Kein Laut, als würde der Raum selbst den Atem anhalten, um den Moment nicht zu verderben, in dem das Rudel über den vermeintlich Stärkeren triumphiert. Die Stimme versagt ihm, Ströme von Schweiß rinnen ihm den Rücken hinab, der Kugelschreiber fällt aus der Hand und zerspringt auf dem Linoleum. Das ist das Ende, denkt er noch, als er sich an die Kehle fasst, kann aber den Blick nicht abwenden von den bohrenden Augen der Hyänen. Selige Ohnmacht erlöst ihn.
Schweißgebadet erwacht er. Der Wecker klingelt, 6:30 Uhr. Ein heiserer Jubelschrei entringt sich seiner Kehle. Nur ein Traum!
Beim Aufstehen fällt sein Blick auf den Stapel Blätter auf dem Nachttisch. Ganz oben eine Folie mit dem heutigen Datum. Titel: Meiose und Mitose.