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„DEIN Timo hat heute wieder…!“
„War das DEIN Leon oder MEIN Leon?“
„Schon wieder DEINE Annika, immer das Gleiche!“
So lauten die gängigen Vorwürfe, denen sich der Klassenlehrer nach überstandenem Unterricht am Kaffeeautomaten ausgesetzt sieht. Nicht nur werden hier Erziehungspflichten in unerträglicher Weise falsch zugeordnet, immer schwingt auch ein leiser Vorwurf an die pädagogischen Fähigkeiten mit: „Hast du den immer noch nicht unter Kontrolle?“ Bitter rinnt daraufhin die braune Brühne, ansonsten ersehntes Lebenselixier, dem so geschassten vermeintlichen Rabenvater die Kehle hinab.

Gerüchteweise gibt es ja noch immer Familien, in denen folgende Sprachregelung gilt: „MEIN Sohn hat das Tennisturnier gewonnen – DEIN Sohn hat mal wieder den Test versemmelt! MEINE Tochter hat dem Ministerpräsidenten die Hand geschüttelt – DEINE Tochter treibt sich wieder mit den Assi-Kindern herum!“ Einen ähnlichen Nachgeschmack – schlimmer noch als der des Kaffees – hinterlassen obige Anfeindungen.

Betrachten wir das Ganze realistisch: Eine Vollzeit-Lehrkraft mit zwei Langfächern plus zwei Übungs- und einer Klassenstunde verbringt im Schuljahr 2018/2019 insgesamt 209 Unterrichtsstunden in ihrer Klasse, das entspricht 156,75 Zeitstunden oder 6,53 Tagen – Okay, rechnet man Klassenfahrten dazu, sind es noch ein paar Tage mehr. Aber angesichts dieses geringen Anteils erscheinen die pädagogischen Einwirkungsmöglichkeiten doch sehr begrenzt – und rechtfertigen in keinster Weise die Formulierung „DEIN Timo“. Wenn ich „MEINEN Timo“ nur 6,53 Tage im Jahr sehen würde, sollte ich mir Gedanken machen.

Wer etwas auf seine geistige Gesundheit hält, bewahrt ohnehin eine gewisse Distanz zu den „Kindern“, denn zu große Verbrüderung führt dazu, dass man sich auch sämtliche Probleme der Schülerschaft zu sehr anzieht und letztlich sogar als seine eigenen ansieht. Und wenn dann eines dieser Kinder nicht den erhofften Abschluss macht oder sogar auf ganzer Linie versagt – denn auch mit viel gutem Willen können wir sie nicht alle retten – dann hängt das dem eigenen Ego nach. Nicht gut. Und wenn dann noch ein Kollege in der Wunde stochert: „Was ist eigentlich aus DEINEM Nico geworden…?“ Oje.

Ist es vielleicht besser, von UNSEREN Kindern zu sprechen? Nein, das ist noch viel schlimmer: So wird aus einem Klassenlehrerteam im Umkehrschluss ein etwas skurriles Ehepaar mit ausuferndem Adoptionszwang und das kann ja auch keiner wollen. Wobei die Mechanismen teilweise dieselben sind wie im familiären Umfeld: „Wenn Mama „Nein“ sagt, frag ich Papa!“ – „Das hat sie mir ganz anders erzählt!“ – „Mama ist netter, aber Papa ist cooler!“ – „Papa hatte einen schweren Tag, als er mit euch geschimpft hat, das meinte er nicht so!“

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Ihr lacht, aber mal im Ernst: Was wir in den unteren Jahrgängen teilweise an Distanzlosigkeit erleben – vom Kotelett-ans-Ohr-Labern über hübsch-hässliche Zeichnungen bis hin zu Umarmungen – zeigt, dass wir für einige Kinder Elternersatz sind! Ironischerweise sogar dann, wenn wir – vielleicht als erste(r) im Leben des Kindes – mal auf den Tisch hauen, Grenzen setzen, Regeln vorgeben, die im „echten“ Zuhause schmerzlich vermisst werden.

Doch betrachtet man Schülerinnen und Schüler der höheren Jahrgänge, in denen die Pubertät mit den ihr eigenen Instrumenten (Fremdscham, Selbstbezogenheit, Ablehnung von Körperlichkeit) ordentlich Distanz geschaffen hat, beruhigt man sich wieder. Manche allerdings verlassen das Eltern-Kind-Schema nicht einmal dann; so musste ich während der gemeinsamen Tutoriumszeit mit einem Kollegen ständig innerlich kichern, wenn er die gestandenen Oberprimaner als „Zwerge“ bezeichnete.

Ein Trost bleibt, denn im Gegensatz zu echten Familien sind diese verhaltensauffälligen Patchworkgruppen nicht von Dauer. Irgendwann hat man sich zum letzten Mal die Hand geschüttelt. Und denkt: Schade. Netter Kerl. Hätte mein Sohn sein können.