Button Mr. HO 90x90

Die Rolle von Mr. HO ist immer auch ein wenig die eines Mythbusters – knallharte Überprüfung und (meistens) Zerstörung langwährender Schulmythen. Heute nehmen wir uns einen Mythos vor, der sich besonders hartnäckig hält: Schülerinnen und Schüler halten zusammen, wenn es gegen Lehrkräfte geht, komme, was wolle.

Ursprünge dieses modernen Märchens lassen sich bereits in Filmen wie „Die Feuerzangenbowle“ oder, Jahrzehnte später, „Die Lümmel von der ersten Bank“ (hier hat sich in der Zwischenzeit evolutionär erstaunlich wenig getan) ausmachen, wo die Fronten von Anfang an geklärt sind: In der roten Ecke die coolen, frechen Pennäler, in der blauen Ecke der langweilige, verstockte, spaßfeindliche Pauker. Nichts, was die verschworene Gemeinschaft trennen könnte, denn der pädagogische Gegenpart bietet auch einfach zu viel Angriffsfläche, die bespielt werden will.

Schnitt ins Jahr 2019. Der Pauker, wenn es ihn je gab, ist so gut wie ausgestorben (einzelne Exemplare sollen noch in abgelegenen Gesamtschulen und Gymnasien ein Habitat gefunden haben). Der moderne Lehrer(innen)typus arbeitet nicht gegen, sondern zusammen mit den Schülerinnen und Schülern am Lernerfolg, ist näher an ihrer Lebenswelt und versteht auch mal Spaß.

Damit kollabiert aber auch der Mythos der zusammengeschweißten Schülerschaft: Wie im römischen Reich nach Bezwingung des Erzfeinds Karthago fehlt der einende äußere Feind, so dass sich das Konfliktpotenzial der Gesellschaft nach innen wendet. Und das bestaunt man immer wieder im Schulalltag:

„Lukas, du wurdest dabei beobachtet, wie du Steine auf Fahrräder geworfen hast!“
Erwünschte Antwort: „Ja, das ist wahr. Ich entschuldige mich aufrichtig für mein Fehlverhalten und biete als Wiedergutmachung drei Wochen alleinigen Hofdienst an.“
Antwort in der Realität: „Das stimmt ja gar nicht! Und außerdem haben Jonas und Tim das auch gemacht!“

Es braucht nicht viel, damit ein Schüler zum Denunzianten wird. Seine Logik: Den Dreck, den ich am Stecken habe, schmiere ich den anderen mit dran, dann bin ich wieder sauber. Selbstrettung durch Kronzeugenregelung? Au contraire, mon cher! Lukas kann sicher sein, dass auch ihn die volle Härte des Schulgesetzes treffen wird. Anders als unter Berufskriminellen muss Lukas jedoch nicht befürchten, dass ihm Jonas und Tim nach Absitzen seiner Strafe auflauern und ihn dafür büßen lassen, dass er gesungen hat – denn jeder von ihnen hätte es genauso gemacht, wäre er erwischt worden. Das ist das ungeschriebene Schulgesetz.

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Der ertappte Täter, der seine Kumpane mit in den Abgrund zieht, ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Einige besonders perfide Schülerinnen und Schüler verfügen über ein feines Sensorium für jede Art von Fehlverhalten, selbst für das, was der Lehrkraft entgeht (und das ist einiges). Eine übliche Szene: Nach Stundenende schleicht sich ein Schüler, nennen wir ihn „IM Klaus“, zum Lehrerpult und raunt mir mit gesenkter Stimme zu, mehrere seiner Mitschülerinnen und Mitschüler hätten sich dem Gebot widersetzt, dass Zeichnungen im Mathematikunterricht grundsätzlich nur mit Bleistift anzufertigen sind. Und IM Klaus gibt sich nicht damit zufrieden, zu berichten – er will eine Reaktion. Eher setzt er sich nicht wieder hin.

Was treibt nun einzelne Individuen zu diesem klassengemeinschaftszersetzenden Verhalten? Übertriebenes Gerechtigkeitsbewusstsein? Nun ja, das ist die offizielle Version, die man gerade noch in den LEB schreiben kann. Aufwertung des eigenen Egos? Punkte sammeln beim Chef? Ringen um Aufmerksamkeit? Hass auf die Gesellschaft? Um das zu entscheiden, reichen die Zutaten meiner Küchenpsychologie nicht aus. Wichtiger aber ist der Umgang mit den selbsternannten Hilfssheriffs: Nimmt man ihre Hilfe dankbar an, um die eigene Kontrolle über die Lerngruppe auszubauen? Oder die harte Tour gegen Petzen: Snitches get stitches!

In meinem Fall hat ein klärendes Klassengespräch mit Fallbeispielen über körperliche/geistige Unversehrtheit und Eigentumsrechte geholfen, in dem wir festgelegt haben, wann eine Lehrkraft hinzuzuziehen ist und wann besser nicht. Die Besuche von IM Klaus sind seitdem ausgeblieben. Aber ich weiß, wo ich ihn finde.