Klassensprecherwahl im 6. Jahrgang. Die Liste der Kandidaten ist lang, man hätte lieber diejenigen anschreiben sollen, die sich den Job NICHT zutrauen. Um das Bewerberfeld ein wenig auszudünnen (jaja, oder um die Bedeutung basisdemokratischer Prozesse zu verdeutlichen), schlägt der Co-Klassenlehrer vor, dass jede/r Kandidat/in (!) eine kurze Bewerbungsrede hält, um die persönlichen Vorzüge den Mitbewerbern gegenüber klarzustellen. Nach ein paar Anläufen setzt ein Schüler das Wahlthema: Er verspricht vollmundig, er werde sich als Klassensprecher um neue Vorhänge im Klassenraum kümmern. Von nun an sind alle übrigen gezwungen, sich zur Vorhangfrage zu positionieren. Zum Glück erreicht man hier einen breiten Konsens, alle sind dafür. Das Vorhangthema war am Ende nicht wahlentscheidend, sondern die sozialen Bande.
Ein Jahr später, es hängen natürlich immer noch dieselben senffarbenen Fensterabdeckungen aus ihren Schienen, ist von der Wahlkampfeuphorie wenig geblieben. Man einigt sich vielmehr darauf, dass die Klassensprecher in Amt und Würden bleiben. Und auch in Jahrgang 8, 9 und 10 brauchen die Amtsträger weder TV-Duell, Podiumsdiskussionen noch leere Wahlkampfkassen zu fürchten. Wenn sie sich in ihrer Amtszeit keine ernsthaften Feinde in der Klassengemeinschaft gemacht haben, können sie wie Diktatoren bis zum bitteren Ende durchregieren.
Obwohl geistige Reife und Fähigkeiten mit zunehmendem Alter steigen sollten, nimmt die Partizipationsbereitschaft der Klasse offenbar ab! In Klasse 5 begrüßt man 25 tatendurstige Neuankömmlinge, die es gar nicht erwarten können, die Klasse zu fegen, die Tafel zu putzen, der Lehrkraft beim Tragen zu helfen und in der Geko zu sitzen, weswegen man fünfzehn alberne Dienste einrichten muss, damit auch wirklich jeder einen abbekommt – vom Abschließdienst, der für geschlossene Türen in der Pause sorgt, über den Brötchendienst, der Sammelbestellungen aufnimmt und mit dem großen Korb losmarschiert, bis zum Energiedienst, der das Licht beim Verlassen des Klassenraums löscht (sicherlich noch der sinnvollste von allen). Im Laufe der Zeit werden dann knallhart per Klassenstundenbeschluss Stellen gestrichen und Tätigkeitsschwerpunkte zusammengelegt: Der Zeitwächter wird wegrationalisiert, der Fegedienst soll jetzt auch aufräumen, ans Lichtausmachen denkt bitte jeder selbst. Endpunkt dieses wirtschaftlichen Wandels ist dann das Abschlussjahr, wo es meist nur noch einen einzigen Dienst gibt, der wirklich zu bemitleiden ist. Dafür ist dann jede/r auch nur noch zweimal im Schuljahr dran. Die Energie wird ja für die zahlreichen Orga-Teams (T-Shirt, Feier, Ball,…) dringend benötigt (hust, hust!).
Was nun? Mutieren unsere Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulkarriere zu egoistischen Ellenbogen-Einzelkämpfern, die auf die Gemeinschaft pfeifen? Nein, sie verlagern nur ihre Prioritäten: Während Fünftklässler Dienste vor allem dazu verrichten, der Lehrkraft zu gefallen, wollen die Absolventen in spe gerade das vermeiden! In Übungsstunden erklären sie sich heimlich gegenseitig den Dreisatz und den Quintenzirkel oder leihen sich Mappen zur Vervollständigung aus, wenn der Oberhirte gerade nicht hinsieht. Die Ellenbogen setzt man dazu ein, andere zurechtzuweisen, wenn zuviel gequatscht wird. Und über verborgene Kanäle werden ganze Klassenpartys organisiert, zu denen das lehrende Personal natürlich nicht eingeladen ist.
Aber bevor es zu bunt wird, muss ich beim Luftschloss die Nadel ansetzen: Was ist mit den sozialen Totalverweigerern, die es doch in fast jeder Gruppe gibt? Hier möchte ich mit Albert Einsteins treffend formulierten Worten entgegnen: Selbst diese erfüllen in Abschlussklassen eine wichtige soziale Funktion: „Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild zu sein – wenn es nicht anders geht, ein abschreckendes.“