Okay, es reicht. Mr. HOs pädagogisches Panoptikum der Prätentiösitäten (Hammer, drei Umlaute!) hat den Schwur geleistet, weder einer einzelnen Interessengruppe Vorschub zu leisten noch sie zu benachteiligen. Es hat vielmehr den Anspruch, die Schulrealität möglichst objektiv…nein, anders…also verbal möglichst gleichmäßig auf alle draufzuhauen. Ja, das ist besser. Aber diesmal muss der Schwur gebrochen werden im Interesse knallharter Lobbyarbeit. Für eine Gruppe, die keine Lobby hat, praktisch Vogelfreie der Spaßgesellschaft, die Ausgestoßenen der Mainstream-Medien, die immer am Katzentisch des Humors sitzen: Die Mathelehrer und Mathelehrerinnen.
Wenn in irgendeinem Buch oder einem Film für Kinder und Jugendliche, ja sogar in vermeintlich seriösen Krimis oder Dramen für anspruchsvollere Zuschauer eine Filmfigur das Stigma bekommt, in der Schule Probleme zu haben, dann ist das dramaturgische Mittel dafür komischerweise immer das Fach Mathematik! Auch im Jahr 2020 öffnet sich die Klassentür, ein spaßbefreiter Drache mit Brille und Haarknoten betritt mit Tafellineal und Geodreieck bewaffnet so demonstrativ schlechtgelaunt die Bühne, dass man heulen möchte ob der Klischeehaftigkeit der Szene. Schnitt auf Matthias in der letzten Reihe, der bei dem Anblick innerlich schon die Segel für diese Stunde streicht und dann die Bestätigung in Form eines herabschwebenden Tests bekommt, dazu das resignierende Kopfschütteln der Lehrkraft. Aber es ist nie ein Deutschtest oder eine Erdkundearbeit, die dem Underdog zu seinem filmischen Image verhilft – nein, es muss ein Mathetest sein! Wenn Bibi Blocksberg, Pippi Langstrumpf oder Conni mit irgendeinem Schulfach hadern, ist es bestimmt nicht Religion! Wer hätte jemals Zeilen wie diese gehört, wenn Olli auf dem Nachhauseweg betrübt seinem Kumpel gesteht: „So ein Mist, jetzt muss ich meinen Eltern erzählen, dass ich eine Fünf in Werken habe!“
Was macht das Fach Mathematik so abgrundtief hassenswert, dass es als Bad Guy unter den Schulfächern über Generationen den Darth Vader der Pädagogik spielen muss („Physik – ich bin dein Vater!!“)?
Machen es sich die Kulturschaffenden hier vielleicht etwas zu einfach? Mathe als Hassfach, das spricht die Mehrheit an, die sich damit identifizieren kann? Weit gefehlt – aus einer Umfrage zum Thema Lieblingsschulfach ging Mathematik sogar als Sieger hervor! Da muss mehr als historische Verklärung am Werk sein… unter uns: Ich fand Geschichte früher ganz furchtbar – jede Stunde hieß es nur: „Zur nächsten Stunde lest bitte die Seiten 154-187 und die Jahreszahlen blablablub“, was bedeutete, in einem blauen, eng bedruckten, spärlich bebilderten Buch nicht zu erkennen, was gerade wichtig ist. Aber das ist Schnee von gestern, heute finde ich das Fach wesentlich interessanter. Ich will damit nur sagen, dass sich im Fächerkanon durchaus noch der eine oder andere Professor Moriarty verbirgt, der vielleicht noch unentdeckt von der Unterhaltungsindustrie ist…
Ist also die Matheaversion gar ein literarischer Topos, der durch jede Erwähnung sein eigenes Denkmal weiterbaut? Dann wäre es dringend an der Zeit zum Umdenken! Denn die Begeisterung für die sogenannten MINT-Fächer ist in Deutschland, äh, ausbaufähig. Aber warum? Weil Generationen von Kindern in ihren Büchern gelesen haben, dass Mathe etwas ganz Schlimmes ist und man von Glück sprechen kann, wenn man mit einer Vier davonkommt, ach was, wenn man seine Schullaufbahn mit halbwegs gesunder Psyche beendet!
Der aufmerksame Leser hat vielleicht festgestellt, dass der Autor dieser Zeilen bis hierher noch kein einziges Pro-Argument für die Mathematik vorgebracht hat. Ich hätte unzählige wahrhaft wunderbare Beweise für diese Behauptung, aber der verbleibende Platz dieses Artikels ist leider zu klein, um sie zu fassen. Also schweigt der Gentleman und genießt. Und hofft, dass er bald nicht mehr über von Mathelehrern terrorisierte Kinder lesen muss. Denn das terrorisiert mich!