Dick eingepackt bahnt sich der leicht übergewichtige Lehrer den Weg zum Pult, wo er seine Tasche abstellt, sich mühsam von Mütze und Schal befreit und mit dem Geschichtsunterricht beginnen will. Die Schülerschaft schickt die ersten Stoßgebete zum Himmel, weil diese Stunden nie ein Ende nehmen wollen, aber Paul weiß Rat: „Pass mal auf!“, wispert er seinem Sitznachbarn zu. Er meldet sich, wird trotz der Unterbrechung des Stundenanfangsimpulses auch sofort drangenommen und fragt mit Unschuldsmiene: „War das eigentlich in Kanada auch so kalt, als Sie da gelebt haben?“ Der Lehrer schmunzelt, kratzt sich am Kopf, als müsse er überlegen, dabei weiß er ganz genau, was er jetzt sagen wird. Er hat es nämlich schon diverse Male gesagt. Er wird von LKW-Trecks erzählen, die Baumstämme aus den Wäldern auf vereisten Straßen bis in die Dörfer und Städte bringen, von dunklen Winternächten und natürlich von der Eiseskälte. Und Paul wird interessiert gucken, in Gedanken seine Mitschülerinnen ausziehen oder vom Mittagessen träumen und sicher sein: Er ist der Held seiner Klasse, denn er hat dafür gesorgt, dass heute kein Geschichtsunterricht stattfindet. Sondern Geschichtenunterricht. Er hat seinen Lehrer getriggert.
Es braucht nur wenig Menschenkenntnis, um herauszufinden, welche Charaktere sich zum endlosen Geschichtenerzählen triggern lassen. Einige erzählen freimütig schon auf bestimmte Schlagworte hin, die sie sich selbst im Lehrervortrag liefern, aus dem reichhaltigen Fundus ihrer Erfahrungen und Erinnerungen. Andere muss man erst ein wenig kitzeln. Man darf es nur nicht zu plump anstellen („Herr Lehrer, was denken Sie eigentlich vom Klimawandel?“), sonst riecht der Getriggerte den Braten und zieht den Unterricht umso mehr durch. Unter den Geschichtenerzähler*innen – deren ungekrönter König selbstredend Hermann Jakobs ist - gibt es allerdings verschiedene Typen. Da ist der Kopfkino-Typ, der bestimmte Erlebnisse ad infinitum rekapitulieren kann und es klingt jedesmal ein bisschen besser. Irgendwann glaubt man, man wäre dabei gewesen. Andere gleichen ihr pädagogisches Umfeld immer mit derselben Person ab („Mein Opa, der hätte dazu gesagt…!“). Dann gibt es noch die Stammtischtypen: Montags wird kein Unterricht gemacht, da wird erstmal das Wochenende nachbesprochen! Was war los, wer ist um die Häuser gezogen und war das ein geiles Bremenspiel?
Wird nun also massenweise wertvolle Unterrichtszeit einfach verschwendet, dass es Hilbert Meyer grausen würde, der doch die bestmögliche Ausnutzung der gemeinsamen Zeit von Lehrkraft und Schüler*innen als eines seiner zehn Kriterien für guten Unterricht ausgemacht hatte? So einfach ist es nicht. Denn das Geschichtenerzählen im Unterricht hat einen ganz eigenen Wert, der an anderer Stelle schon angedeutet wurde: Erst einmal dient es der Festigung der Bindung zwischen Lehrenden und Belehrten, zumindest dann, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht: Wenn ich mit Schüler*innen über das ganz normale Leben sprechen kann, dann fällt es mir vermutlich leichter, sie für Dinge wie radioaktiven Zerfall, das lyrische Ich oder Sallusts jugurthinischen Krieg zu begeistern (ein wahrhaft sperriges und energiefressendes Stück Literatur, das völlig zu Recht aus dem Kerncurriculum der Oberstufe geflogen ist – meine Meinung!).
Und andersherum: Wenn ich ihre Sorgen und Nöte kenne, dann fällt die Standpauke bei der nächsten Testrückgabe vielleicht etwas gemäßigter aus. Win-win auf ganzer Linie also. Und wer jetzt mault, dass durch das Palaver (schönes Wort, lange nicht benutzt!) wertvolle Unterrichtsinhalte verdrängt werden, dem sei versichert: Vieles von dem, womit man da vorne ex cathedra beschallt wird, verflüchtigt sich schneller als ein fertiger Nachschreiber, aber die guten Stories bleiben im Kopf und geben vielleicht in irgendeiner Lebenssituation einmal die richtige Anregung, Stichwort: Role model.
Ich denke jedenfalls noch oft an Kanada.
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