Die Lehrer*innenausbildung in Deutschland muss man sich in etwa so vorstellen wie die Herstellung einer Raumsonde: Zuerst wird das Subjekt über Jahre von verschiedensten Personen unter Laborbedingungen eingehend beobachtet, man schraubt hier und da an Fachinhalten, pädagogischen Fähigkeiten und der Lehrerpersönlichkeit herum, lässt in kontrolliertem Umfeld arbeiten, unterzieht dann die zukünftige Lehrkraft zahlreichen intensiven Tests und Prüfungen und bereitet alles für den Tag des Absch(l)usses vor: Die Rakete verlässt die Rampe, die Herren und Damen Ingenieure bleiben winkend zurück, es schließt sich die Klassentür, und zwar von außen. Von nun an hält man nur noch über Funk Kontakt – alle Geschehnisse in den Tiefen des (Klassen-)Raums bleiben voll und ganz der Kompetenz der Lehrperson überlassen: Was in der 9c passiert, bleibt in der 9c! Der Unterricht wird zur Blackbox für alle Außenstehenden und das darf nach dem Willen der meisten Lehrenden auch gerne so bleiben – man hat sich schließlich lange genug in die Lernkarten blicken, über Phasierung belehren und für Unterrichtsplanungen und
-umsetzungen kritisieren lassen! Der angehende Lehrkörper ist froh, sich seinen eigenen Raum erarbeitet zu haben, in den gefälligst bis zur Pension niemals mehr jemand eindringt: My Unterricht is my castle!
Manchmal geschieht es durch die Notwendigkeit der Bürokratie aber doch, dass externe Besucher einen Blick hinter die Mauer des Schweigens werfen, sei es wegen der Verbeamtung, eines Dezernentenbesuchs anlässlich des Abiturs oder einer Schulinspektion – ein Wort, bei dem selbst in Würde gealterten Pädagog*innen der kalte Schweiß ausbricht. Panisch werden da hingeferkelte Halbentwürfe in der Pause zusammengerafft, hektisch die Frisur gerichtet, klebt der Blick an der Uhr, um den Beginn des Unterrichts um Himmels Willen nicht zu versäumen. Da werden angstvolle Blicke im Kollegium ausgetauscht, man flüstert einander verstohlen zu: „Waren sie auch schon bei dir?“ Als müsste eine im Stahlbad des Referendariats gehärtete und durch jahrelange Praxis abgebrühte Lehrkraft den Besuch einer wie auch immer gearteten Autorität fürchten. Oder ist die Sorge doch berechtigt? Klingt da das unterschwellige schlechte Gewissen durch, dass die hohen Standards an Vorbereitung, Differenzierung, Wirksamkeit und Ansprache der Schülerschaft über die Jahre doch ein wenig gelitten haben? Dass man sich ein paar Mal zu oft der Türschwellenpädagogik* bedient hat? Dass die Dokumentation der individuellen Lernentwicklung eher Emmentaler als Tilsiter ähnelt?
Wehe euch, ihr Angstbefallenen und Furchtsamen! Hier hilft nur Mr. HOs Kategorischer Imperativ der Pädagogik: Unterrichte so, dass die Art deines Unterrichts jederzeit Grundlage eines unangekündigten Besuchs sein könnte! Mache dir die Mühe einer ausführlicheren Hinführung zur zentralen Erkenntnis der Stunde! Benutze das Arbeitsblatt, bei dem geschnitten und geklebt werden muss, auch wenn es Jahre dauert, bis es alle geschafft haben! Hole dir die Laptops, auch wenn ihre Einsatzfähigkeit mehr als fraglich ist! Baue differenzierte Hilfen ein, auch wenn sie niemand benutzt!
Soso, Mr. HO, und wie soll ich das bei einer vollen Stelle plus Aufsichten und Homeschooling dauerhaft leisten, ohne physisch und psychisch vor die Hunde zu gehen?
Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Ich nehme mir vor, mindestens eine Doppelstunde pro Woche „richtig schick“ zu machen (also auf Niveau Referendariat beta) und beim Rest dafür kleine Abstriche in puncto vollumfängliche Vorbereitung in Kauf zu nehmen. Jedenfalls habe ich mir das mal geschworen.
Und noch etwas hilft gegen die Panik vor Fremdpersonen im eigenen Unterricht: Konfrontationstherapie - Man lade sich absichtlich welche ein! Jedes Jahr im September und Februar bekommen wir Praktikant*innenbesuch und diese jungen Leute leben davon, dass wir das Siegel an unseren Klassentüren brechen und sie willkommen heißen. Übrigens eine Win-win-Situation: Nicht nur profitieren die Lehrkraft-Aspirant*innen von der Weisheit der Altvorderen, sondern diese sind mal wieder gezwungen, Unterricht zu zeigen, der sich sehen lassen kann! Also: Raus aus der Komfortzone, rein in den Unterrichtsbesuch!
* Türschwellenpädagogik, die: improvisierte Form des Unterrichtens, bei der sich Vorstellungen vom Unterricht, seinen Inhalten und seiner Durchführung erst durch spontane Assoziation (beim Überqueren der Türschwelle durch die Lehrkraft) einstellen.