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Die meiste Zeit des Schuljahres lässt sich das Elternhaus am Mittagstisch auf die Frage, wie denn der Schultag des Kindes verlaufen sei, mit der Antwort „Gut“ abspeisen (ist das Kind sehr gesprächig, vielleicht auch „Ganz gut“). Man hakt da nicht weiter nach, schlürft zufrieden seine Suppe weiter, das Kind verlässt mehr oder weniger fluchtartig die Küche, weil seine Fähigkeit, ein Pokerface aufzusetzen, nicht ausgeprägt genug ist. Denn es gäbe da schon einiges zu berichten, das ist ihm durchaus klar. Aber beide Seiten arrangieren sich mit dieser Fassade: Du sagst nichts, ich frag nichts.

Doch einmal im Jahr flattert dann dieser Zettel ins Haus. Die Damen und Herren Lehrkräfte laden zum pädagogischen Stelldichein ins Schulgebäude und das Kind lässt dazu leider keinen Kommentar Marke „Der Lehrer sagt, du brauchst nicht zu kommen!“ verlauten. Das würde es vielleicht tun, wäre es ein geübter Lügner, aber die Statik dieses Lügengebäudes wäre mehr als wacklig, wenn schon das Fundament rissig ausgegossen wird. Am Vorabend der Apokalypse dann die abendliche Frage an das Schulkind: „Muss ich irgendwas wissen?“ Denn die dunkle Ahnung, die das ganze Jahr über im Hinterzimmer des Oberstübchens gehockt hat, dass da vielleicht doch etwas Erwähnenswertes sein könnte, macht sich nunmehr bemerkbar. Gut, man hätte bei dem blauen Auge, dem Brandgeruch oder dem Schultaschenweitwurf neulich stutzig werden können, hat sich das Ganze dann aber doch als pubertären Auswuchs erklärt und weiter Zeitung gelesen. Nun aber gibt es kein Entrinnen. Das Kind wendet natürlich die Salamitaktik an und gibt nur so viel von der Wahrheit preis, dass dem Elternteil vorm Tribunal der Gesichtsverlust erspart bleibt.

Also macht sich Vattern oder Muttern auf den beschwerlichen Weg nach Mordor und bemüht sich, den Weg durch das labyrinthische Tollhaus zu finden, zurückversetzt in die eigene Kindheit – spätestens dann, wenn man vor der Lehrkraft sitzt und von dieser mit dem gleichen Blick bedacht wird wie der eigene Sprössling, nämlich einer Mischung aus Strenge und Resignation. Sodann öffnet sich der erste Kreis der Hölle. Was nun folgt, ist ein Lehrstück, frei nach Elisabeth Kübler-Ross*:

Phase 1: Leugnen. Manch Elternteil versucht in dieser Anfangsphase, die noch zaghaft formulierten Vorwürfe mit Floskeln zu parieren („Wir kriegen von den Aufgaben ja nix mit zu Hause!“) oder sperrt sich komplett dagegen („Das kann gar nicht sein, ich hab letzte Woche alles neu gekauft!“).

Phase 2: Zorn. Angesichts der eigenen Hilflosigkeit oder vielleicht auch eines verdrängten Schultraumas macht sich Wut Luft – über die Unfähigkeit des Kindes, über die Methoden des Lehrpersonals, vielleicht auch über das Schulsystem und das Leben an sich.

Phase 3: Verhandeln. Nachdem sich die Gemüter wieder einigermaßen beruhigt haben, ist das Feilschen eröffnet – was muss mein Kind für welche Note tun, ist dieser oder jener Abschluss eventuell noch zu bekommen und ist das wirklich eine Vier in NWS?

* schweizerisch-amerikanische Psychiaterin und Entwicklerin eines fünfstufigen Modells der Trauerbewältigung

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Phase 4: Depression. Nun, da alle Fakten in Form von eingesammelten Hausaufgaben, Tests und Schulplaner auf dem Tisch sind, sickert die Erkenntnis des Lernstands beim Nachwuchs langsam durch. Es entstehen peinliche Gesprächspausen. Vielleicht lüftet man jetzt mal.

Phase 5: Akzeptanz. Reichlich zerknirscht und mit halblauten Drohungen Richtung Kind („…kann was erleben heute Abend!“) reicht man sich die Hände, zwingt sich zu einem halbwegs versöhnlichen Lächeln und geht wieder getrennter Wege.

Vielleicht kommt auch gar keine dieser fünf Phasen vor und man spricht stattdessen in lockerer Atmosphäre über die neuesten Erfolge des Kindes, seine soliden Basiskompetenzen und die Aussicht auf einen vielversprechenden Schulabschluss. Wellness für die Elternohren, so entspannend wie eine Nackenmassage – und auch die Lehrperson ist froh, mal nicht meckern zu müssen. Wie schnell sind da die zehn Minuten verflogen. Eigentlich hätten Sie gar nicht kommen müssen, Frau Müller.

Ach, doch. Das hört man sich doch gerne mal an.

Dann bis nächstes Jahr.