Der Inhalt der Physik geht die Physiker an,
die Auswirkung alle Menschen.
- Friedrich Dürrenmatt
Vor ziemlich langer Zeit, also etwa bei t = -5, wobei t die Anzahl vergangener Jahre seit 2022 beschreibt, da gab ich ein Versprechen. Und schon an diesem einleitenden Satz sollte die Marschrichtung für diesen Artikel deutlich werden: Nerdiger wird’s nimmer!
Ich versprach nämlich, mich auf meiner literarischen Tour durch die schulischen Fachbereiche als nächstes denjenigen zu widmen, die – so würde es einer meiner Schüler formulieren – „das Mathespiel mit Bonuslevel durchgespielt haben“, gemeinhin auch Physiklehrer*innen genannt, wobei hier die weibliche Form besonders intensiv mitgedacht werden muss, leidet dieser Fachbereich doch wie wenige andere unter fehlender Geschlechtergleichheit. Woran mag das liegen?
Nun, zunächst einmal rekrutiert sich das Personal der Physik vorrangig aus einem Pool naturwissenschaftlich begabter Nerds*, also Leuten, die auch nach Feierabend spaßeshalber (!) Nachkommastellen von Pi berechnen, ernsthaft über die technische Machbarkeit und Umsetzung eines Warpantriebs diskutieren** oder ein Programm zur automatischen Betätigung der Kaffeemaschine schreiben. Und da, so scheint es, haben die Herren der Schöpfung wohl einfach öfter Bock drauf.
W as außer dieser Leidenschaft für abseitige populärwissenschaftliche Phänomene zeichnet diesen Menschenschlag aus? Physiklehrkräfte gehen gerne dahin, wo es wehtut: Dort, wo sich Mathematiklehrkräfte, die oft belächelten Padawane der Macht der Physik, angesichts der augenfälligen Grenzen des mathematischen Modells in einer Sachsituation augurenlächelnd zuzwinkern und ihr Buch schließen, kommen Physiker*innen tatsächlich erst so richtig in Fahrt: Eine Annäherung des Modells an die Realität, mit der ein/e Physiker*in zufrieden ist, ist möglich, sofern man nur genügend Parameter (vulgo: Buchstaben) einführt. Und da reichen lateinisches und griechisches Alphabet manchmal kaum aus. Motto: Welchen Teil von dieser Aufgabe verstehst du nicht?!
Paradoxerweise versucht also die Physik eine möglichst exakte Approximation der Wirklichkeit, erreicht dabei aber oft eine größtmögliche Distanz ihres Personals von selbiger. Zu erkennen am wenig massenkompatiblen Humor. Kostprobe gefällig? An der TU Darmstadt hat man vor kurzem ein Epsilon gefunden, das so klein war, hätte man es durch zwei geteilt, wäre es negativ geworden. Hust, hust.*** Wie gut, dass Physiklehrkräfte von Zeit zu Zeit mit echten Menschen in Kontakt kommen, das ist oft sehr hilfreich. Im Rahmen dieser Schüler-Lehrer-Kontakte werden die Lernwilligen unterer Jahrgänge zunächst mit handlungsorientiertem Unterricht angefüttert (Stromkreise bauen, an Flaschenzügen ziehen, mit Magneten experimentieren) und man verschweigt ihnen geflissentlich den Tsunami aufwändigster Berechnungen, der sich am Horizont auftürmt (so ähnlich wie die Fremdsprachler*innen, die erst mit Comics, Rollenspielen und Schüleraustauschen locken und erst später die Grammatik- und Vokabelkeule schwingen). Aber, und das sei ihnen ausdrücklich gegönnt, sie halten einen Schlüssel zum Verständnis der Realität in Händen! So abgefahren und manchmal weit entfernt diese Realität auch sein mag, sie fasziniert. Als Kind hatte ich das Was-ist-was-Buch „Moderne Physik“. Verstanden habe ich kein Wort von den Neutronensternen und Schwarzen Löchern, aber die Bilder und Vergleiche haben mir sehr gefallen (arbeitet man z.B. oben in einem Hochhaus auf einem Neutronenstern acht Stunden lang, ist unten am Boden nur eine Stunde vergangen! Awesome!). Harald Lesch kann ich stundenlang zuhören und Interstellar ist einer meiner Alltime-Lieblingsfilme – also, liebe Physiker*innen, haltet euch an den Energieerhaltungssatz und erhaltet diese Energie bei euren Schüler*innen! Das Fach mag nur wenige Liebhaber*innen hervorbringen, aber diese bleiben ein Leben lang treu.
* Siehe auch Episode 87: „Der Streber – das unbekannte Wesen“
** Für jene, die verstehen, ist keine Erklärung erforderlich – für jene, die nicht verstehen, ist keine Erklärung ausreichend.
*** siehe **