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Die Tür schließt sich hinter mir und Stille tritt ein. Ich setze mich an den Tisch des Lehrerzimmers, mir gegenüber sitzen Angelique und Jannis (Namen von der Redaktion geändert), nichtsahnend. Das jedenfalls sagt ihre Mimik, die sie ziemlich perfekt unter Kontrolle haben. Ich setze mich und versuche es erstmal mit der Verkehrspolizei: „Na, was glaubt ihr, warum wir hier sitzen?“ Schulterzucken.

Okay, wenn ihr es auf die harte Tour haben wollt. Ich zaubere zwei Mathematiktests hervor, auf dem einen steht „Angelique“, auf dem anderen „Jannis“. Keine messbare Reaktion. Die sind wirklich verdammt abgebrüht. Hätte ich kollegiale Unterstützung, könnte genau jetzt jemand hereinkommen und als Good Cop so etwas wie ein Heißgetränk anbieten. Aber ich bin allein, also bin ich Bad Cop. Seufzend blättere ich die erste Seite bei beiden Tests um und präsentiere Beweisstück eins: Aufgabe 3a. Mathematisch und orthografisch identischer Murks. Hier liegt also ein deutlicher Hinweis auf ein Plagiat vor – in welcher Richtung, kann ich noch nicht erahnen, da ich kein offensichtliches Leistungsgefälle zwischen Angelique und Jannis festgestellt habe, das der schwächere Part ausgenutzt haben könnte.

Erwartungsgemäß streitet man den Vorwurf ab. Das könne ja wohl mal sein, dass Aufgaben ähnlich aufgeschrieben werden. Und sie hätten wirklich beide dieselben Schwierigkeiten mit diesem Wort. Ernsthaft?

Ein Teil von mir wünscht sich eine Lampe mit drehbarem Schirm und 100-Watt-Glühbirne. Ein Teil von mir möchte die beiden separat befragen und sie vor das Gefangenendilemma stellen: Packst du aus, gehst du straffrei nach Hause und dein Kumpel spürt die Härte des Gesetzes. Schweigst du, seid ihr beide dran. Aber ein anderer Teil von mir kommt sich zusehends lächerlich vor und möchte gerne noch etwas von der großen Pause haben, deshalb beschleunigen wir das an dieser Stelle ein wenig, also Auftritt Beweisstück zwei: Aufgabe 4b. Wieder das gleiche Zahlenwerk, nur dass bei Angelique an der Stelle, an der bei Jannis die Gewichtseinheit Gramm, abgekürzt „g“ zu finden ist, ganz eindeutig eine „9“ steht. Ach, Angelique. Damit ist sie überführt, der Indizienbeweis ist perfekt, es war Angelique mit dem Tintenfüller im Westflügel! Es braucht nur noch das Geständnis, das sich möglicherweise strafmildernd…

„Das beweist gar nichts!“, entfährt es ihr. Danach ist kein Wort mehr aus ihr herauszubekommen. Fast schon erwarte ich, dass sich jeden Moment die Tür öffnet, ein windiger Anzugträger mit Lederkoffer hereinschneit und schützend den Arm um Angelique legt: „Sie müssen hier überhaupt nichts sagen! Hat man Sie schlecht behandelt?“ Und dann schleichen sie langsam davon, während sie mir über die Schulter böse Blicke zuwerfen. Und als sie den Raum verlassen haben, haue ich mit der Faust auf den Tisch, fege wutentbrannt einen Stapel Arbeitsblätter auf den Boden und brülle meinen Kollegen an: „Verdammter Mist! Ich hatte sie fast!! Woher kommt auf einmal dieser Anwalt?! Hast du sie telefonieren lassen?“

Und er hebt dann beschwichtigend die Arme: „Ich glaube, du steigerst dich da in etwas hinein. Lass gut sein!“

Ruckartig stehe ich auf, gehe zum Fenster und spreize mit den Fingern die Jalousien auseinander, so dass ich sehen kann, wie unten auf dem Parkplatz der schmierige Möchtegernjurist den beiden Delinquenten die Hand schüttelt und noch einmal triumphierend zu mir hochgrinst, bevor er wieder in seinen BMW einsteigt. „Na warte, Bürschchen, wir sehen uns vor Gericht!“, grummle ich, bevor mich die Jahrgangsleiterin wieder in die Realität zurückholt: „Ähm, die Klasse 9c wartet auf dich.“

Dann eben. Eine kleine Vorlesung über Täuschungsversuche in Mathematiktests kann nicht schaden.

Bad Cop out.

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