Geben wir es doch zu: Eine Gruppe junger Menschen, eingepfercht in einem Raum, der außer Licht und Sauerstoff keinerlei Grundbedürfnisse bereitstellt und in dem sich außerdem eine erwachsene Person befindet, die irgendwie beim Erwerb schulischer Kompetenzen behilflich sein soll – das stellt im Grunde eine zutiefst künstliche Situation dar, vor allem für die Lehrkraft: Wo die Schülerschaft in der Anonymität der Masse untertauchen kann, sitzt sie auf dem im Gegensatz zu den übrigen Sitzgelegenheiten zwar gepolsterten, aber exponierten Präsentierteller und muss sich den ganzen Vormittag dort irgendwie verhalten, da sie im Zweifel immer Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ist, das ist von der Innenarchitektur wohl so vorgesehen. Was dazu führt, dass der Bewegungsapparat manchmal überraschende Kapriolen vollführt. Da lassen sich einige unterschiedliche Bewegungstypen herausarbeiten, der Einfachheit halber ungegendert:
Da wäre zunächst einmal der Buddha. Er ist entweder ganz ganz alte Schule oder er ruht wie sein berühmtes Vorbild komplett in sich. Heißt in der Praxis: Das Lehrerpult bleibt neunzig Minuten lang Dreh- und Angelpunkt des Unterrichts. Von hier aus werden Aufgaben gestellt, Unterrichtsgespräche moderiert und Sicherungen diktiert. Sollte einmal ein Arbeitsblatt zu verteilen sein, reicht man es dem oder der Nächstsitzenden mit langem Arm an, auf dass es die Runde mache. Individuelle Beratung am Sitzplatz findet nicht statt, wer Fragen hat, kann sich ja melden. Kreide, Beamer, Smartboard oder ähnlicher neumodischer Quatsch werden nicht benötigt, Verschriftlichungen stören nur die Essenz des zu Lernenden. Am liebsten sind dem Buddha Stillarbeitsphasen, während derer er stundenlang in Notizbüchern kritzeln kann.
So lethargisch der Buddha, so rastlos sein Gegenstück, der Wanderer. Ihn hält nichts auf seinem Platz, weiß er doch genau, wie gesundheitsschädlich längeres Sitzen ist, und so durchstreift er pausenlos die Weiten des Klassenraums, zum Leidwesen mancher Schüler*innen, die immer damit rechnen müssen, dass er plötzlich hinter ihnen steht. Denn irgendwann sind alle Regale aufgeräumt, die Technik eingerichtet und die Tafel grundgereinigt. Ob der Wanderer eine Kilometergeld-Klausel in seinen Arbeitsvertrag hineinverhandelt hat, ob ihm im Referendariat mal jemand eine Reißzwecke auf den Stuhl gelegt hat oder ob er einfach das zuviel aufgenommene Koffein abtrainieren muss – man weiß es nicht. Da ich selbst Betroffener bin, könnte ich natürlich leicht auflösen: Es ist einfach das pure Engagement, das sich Bahn bricht. Spaß. Ich weiß es wirklich nicht. Wahrscheinlich sternzeichenabhängig. Skorpione haben so viele Beine, die wollen benutzt werden oder so.
Dann haben wir da noch Mr. Fensterbrett. Er hat ähnlich wie der Buddha einen Lieblingsplatz im Klassenraum, den er so gut wie nie verlässt, allerdings stehend und zugunsten der Schülerzentrierung: Ähnlich wie der Architekt, der mit einem Bauplan auf der Baustelle herumsteht und hier und da ein paar Anweisungen gibt, dirigiert er vom Fenster aus das Lerngeschehen. Medien werden dabei durchaus genutzt, allerdings nur von der Lerngruppe, die sämtliche Tafelanschriebe allein leistet, Merksätze autonom aufstellt und durchdiskutiert sowie Aufgabenlösungen bespricht. Ein gelegentliches Nicken von Mr. Fensterbrett, mehr braucht es nicht.
Das Finale grande bildet der Tänzer, der eine Bereicherung jeder Unterrichtsstunde sein kann, wenn auch nicht unbedingt der Inhalte wegen. Stühle, Tische, Tafel – alles ist ihm Requisit und Kulisse, um sein Können zu demonstrieren. Was auf den Laien wie groteske Verrenkungen oder missglückte Signature Moves wirkt, ist in Wahrheit ganz großes Tanztheater. Auf dem Tisch abstützen, die Hände langsam nach vorne gleiten lassen, dabei die Finger spreizen, dann zur Pointe ruckartig in den Stütz zurückfedern. Oder auch im Sitzen: Niemand schlingt so gekonnt die Beine umeinander – einmal, zweimal, dreimal? – wie er. Eine falsche Schüler*innenantwort? Schon hat der Tänzer die Pose von Rodins Denker eingenommen und wackelt provokant mit dem Schmollmund.
Wenn ich jemals befürchtet haben sollte, dass mein Beruf irgendwann von Robotern übernommen wird, kann ich ganz beruhigt sein. So etwas bringt man keiner KI bei.