„Um ehrlich zu sein, K-Pax scheint ein traumhafter Ort zu sein.
Den würde ich gern mal sehen, denken Sie, das würde gehen?"
"Sie sollten erst mehr von Ihrer Welt sehen.“
- aus dem Film K-Pax – alles ist möglich
Eines der abgefahrensten soziokulturellen Phänomene, die die Zeit der Lockdowns uns beschert hat, zeigte sich bei einem Waldspaziergang: Da hatte jemand mit viel Mühe und Liebe aus ein paar Eisstielen, Heißkleber, Glitzerstift und anderem Klimperkram ein Türchen gebastelt und am Wurzelwerk einer Buche appliziert. Auf der Tür stand: „Hier wohnt Elvira, die Waldfee“. Holla, dachte ich, warum dies? Zumal in der näheren Umgebung noch drei weitere Feen mit ähnlichem Hauseingang ansässig waren. Das war ein nettes Suchspiel, praktisch der Nachfolger der Ostfriesenkiesel, vermutete ich, die wir zu der Zeit zuhauf gefunden haben. Wir waren wirklich oft spazieren.
Dann aber, wie das immer so ist, wenn einem ein neues Phänomen begegnet, strömten plötzlich aus allen Richtungen Manifestationen dieses Trends auf mich ein. Die genannten Türchen konnte man nicht nur selber herstellen, sondern auch als fertige Sets im Internet kaufen! Da gehörten dann auch kleine Schlitten, Weihnachtsbäumchen, Geschenkehaufen und anderes Zeug dazu. Und vollends verrückt wurde die Sache, als ich erfuhr, dass es Menschen gibt, die keine geringen Anstrengungen unternehmen, ihre Kinder glauben zu machen, es gebe diese Feen, Elfen, Wichtel oder so wirklich! Da werden Fußspuren in die Butter gestanzt, ein „Kletterseil“ am Kühlschrank befestigt, Krümel hinterlassen, wo am Vorabend noch ein Keks lag. Man berichtete mir von Kindern, die ihre Eltern praktisch dazu nötigten, es solle doch bitte auch ein Wichtel bei ihnen „einziehen“, alle anderen in der Klasse hätten auch einen. Und die Eltern spielten das Spiel mit, was bei einigen solche Ausmaße annahm, dass die Wichtel Postkarten aus imaginären Urlauben schreiben mussten! In Skandinavien ist das wohl schon länger Trend. Aber warum? Ist es der Versuch, eine magische Parallelwelt aufzubauen, um die Kinder von der harten Realität (ja, die ist manchmal wirklich nicht schön) abzulenken? „Die Kinder brauchen Magie!“, so fasste es jemand einmal mit Verve zusammen.
Ich habe da einen etwas anderen Ansatz. Zugegeben, ich konnte mit dem ganzen Weihnachtsmann-Osterhasen-Zahnfee-Gedöns noch nie besonders viel anfangen. Als meine Mutter mir die vermeintlich schmerzvolle Wahrheit eröffnete, reagierte ich, wenn ich mich recht erinnere, einigermaßen abgeklärt: Hatte ich mir schon gedacht. Bei meinen Kindern habe ich den Zirkus auf ein sozial verträgliches Mindestmaß reduziert, weil ich Fan der No-Bullshit-Erziehung bin. Das soll überhaupt nicht heißen, dass ich ein abgestumpfter Realist bin, der keinen Sinn für Magie hat. Ich habe auch kein Problem mit ausufernder Fantasie, im Gegenteil: Ich finde, das ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die man haben kann. Und ich kann auf viele Jahre Fantasy-Rollenspiel zurückblicken. Aber ich möchte lieber anderen die Augen und Ohren öffnen für das, was uns an „echter“ Magie begegnen kann. Zum Beispiel: abends Bücher vorlesen (und mir für jeden der achtundsiebzig Charaktere eine eigene Stimme ausdenken), eine Fledermauswanderung beim Upstalsboom, die Formation der Starenschwärme an der Küste, stundenlang in Escape-Spielen Rätsel lösen, Axel Bosse auf Spotify auf der Terrasse an einem Sommerabend, der Blick aus dem Flugzeug von oben auf die Wolkenberge, ein Gedicht, das bei einer Beerdigung vorgetragen wird. Das ist meine Magie. Und oft genug braucht es dafür nicht einmal große Erlebnisse. Geschweige denn Fabelwesen. Oft entsteht etwas Magisches im persönlichen Miteinander. Sogar bei der Arbeit, sogar in der Schule und sogar in Lernsituationen. Selten, aber nicht ausgeschlossen.
Und eventuell hält ja sogar das gute alte Weihnachtsfest dieses Jahr mal wieder einen Gänsehautschauer bereit. Ob nun mit oder ohne Weihnachtsmann. 😉
Ein frohes Fest und erholsame Weihnachtsferien wünscht euch
Mr. HO alias Jochen