Jeder Mensch muß nach seiner Weise denken;

denn er findet auf seinem Wege immer ein Wahres

oder eine Art von Wahrem, die ihm durchs Leben hilft.

- Johann Wolfgang von Goethe

Als Referendar, neu in einer Lerngruppe, hältst du zunächst mal Ausschau nach den tragenden Säulen des Unterrichts. Die zwei, drei Leuchttürme, die du auch in schwerer See nachts um halb drei immer fragen kannst und sie nennen dir die Geschwindigkeitsformel, erklären dir den Verdauungsprozess oder deklinieren dir hic, haec, hoc bis zum Ablativ Plural. Die brauchst du zum Bestehen, denn du möchtest vor allem eins: Richtige Antworten, während jemand dabei zusieht. Antworten, die mit deiner Antizipation im Unterrichtsentwurf übereinstimmen.

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Natürlich hältst du genauso Ausschau nach den Störenfrieden, den Pappenheimern, den Heiopeis oder wie du sie sonst, wenn niemand zusieht, höchstens im Beisein der Altvorderen, nennst, denjenigen also, die das Potential haben, deine Stunde den Bach hinuntergehen zu lassen, weil sie praktisch unbelehrbar sind. Und alle dazwischen versuchst du dann auf deine Seite zu ziehen und dazu zu bringen, den Unterricht klüger zu verlassen als sie ihn betreten haben.

Das machst du dann auch nach dem Ref, weil es sich für dich richtig anfühlt. Du hast deine Antizipation nicht mehr verschriftlicht, aber du hast sie im präfrontalen Cortex eingraviert und kannst sie jederzeit mit jeder möglichen Antwort abgleichen. Warum begehrte Luther gegen die katholische Kirche auf? – Weil er nicht an Gott glaubte! – Nein, falsch! – Weil er seine eigene Kirche gründen wollte! – Hm. Hm. Nein, kann man so nicht sagen, falsch! – Weil er ein Idiot war! – Raus mit dir! … Falsch! – Weil er einsah, dass die katholische Kirche den Menschen den Weg zum wahren Glauben verwehrte und ihre Macht ausnutzte! – Richtig! Dankesehr!

Und dann kommst du irgendwann an den Punkt, da hast du die vermeintlich einzige richtige Antwort einmal zu oft gehört.* Und du beginnst, deine Prioritäten neu zu ordnen. Du freust dich immer noch über die Fleißigen, die Makellosen, die Erfolgreichen. Aber du entwickelst ein Ohr für die Erratischen, die Kreativen, die Abwegigen, die sich standhaft weigern, immer den gut ausgeschilderten Lernwegen zu folgen und dabei nicht über die Absperrung zu greifen. Die dir von fürchterlichen Mathelehrern erzählen, die immer nur diesen einen Lösungsweg hätten gelten lassen, alles andere würden sie als falsch ansehen! Die Ideen haben und bereit sind, sie mit dir und dem Rest der Gruppe zu teilen. Sei es, dass sie zaghaft und unsicher ihr Notizbuch (sie haben oft ein Notizbuch, Hefte sind Mainstream!) hervorholen und daraus vorlesen, sei es, dass sie mit vor Unverständnis gerunzelter Stirn lauthals mit dir in den Diskussionsring steigen – gemein ist ihnen allen die Frage: Geht das nicht auch anders? Und für sie ist diese Frage eindeutig zu beantworten. Und du begibst dich auf ein Abenteuer, wenn du ihnen zuhörst. Du verlässt die stabilen Bretter deines tausendmal geübten Wissens und lässt dich langsam vorantastend an ihrer Hand führen, auch mal auf Abwege, es ist nicht alles Gold, aber es ist anders. Es ist manchmal auch anstrengend, ihnen zu folgen, nachzuvollziehen, abzugleichen, zu bewerten: auch gut, besser, schlechter? Aber du bist jetzt nicht mehr der Souverän des Unterrichts, Richter über Richtig und Falsch. Du gehörst jetzt zu ihnen. Du gehst einen neuen Weg, siehst aus einer neuen Perspektive, lernst eine neue Art des Denkens kennen. Du lernst! Ist das überhaupt so gedacht, im Sinne des Erfinders, darf er so?!

Ja, darf er. Darfst du. Und du möchtest das wieder erleben, du möchtest sie am liebsten alle zu Querdenkern machen, wäre dieses Wort nicht hoffnungslos verseucht. Armselig der Schüler, der seinen Meister nicht übertrifft, sprach Leonardo. Sinnvoller müsste es heißen: Armselig der Lehrer, der glaubt, er müsse seinen Schülern auf ewig voraus sein.

* siehe auch Episode 118: „Das Murmeltier im Hamsterrad“