„Oben rechts! Nein, weiter rechts! Das X müssen Sie wegklicken! Nein, das untere! Nein, das war die Browserleiste!“ Wer sich jemals wieder gewünscht hat, das Gefühl nachzuempfinden, vorne an der Tafel zu stehen und auf ganzer Linie zu versagen, während alle anderen den totalen Durchblick haben, dem sei diese Erfahrung ans Herz gelegt: Alles, was ich vorhatte, war, der Klasse ein Youtube-Video auf einem der schicken neuen digitalen Boards vorzuspielen. Sonst nichts. Und nur meiner Engelsgeduld ist es zu verdanken, dass ich es im Sturm der allgemeinen gut gemeinten Ratschläge aus dem Plenum am Ende tatsächlich geschafft habe. Ich bin kein Digital Native, aber das Abspielen eines Videos ist normalerweise eine einfache Fingerübung für mich. Normalerweise. Was aber hat mich diesmal daran gehindert? Klarer Fall: Ich befand mich innerhalb des Leferinkschen* Verdummungsradius. Definiert ist dieser als der Abstand einer Person von der Tafeloberfläche, innerhalb dessen es a) unmöglich ist, das gesamte Tafelbild zu erfassen und b) - als Folge davon - angemessen auf Korrekturen selbst verursachter Fehler von außen zu reagieren. Bedeutet in der Praxis: Hilflos herummäandernde Arme, der Kopf zuckt orientierungslos hin und her, ab und zu eine zaghafte Markierung oder Ergänzung, die dann hastig wieder weggewischt oder durchgestrichen werden muss, was dem Tafelbild insgesamt nicht guttut.

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Die Klasse unterdessen macht ein hübsches Spiel daraus: Mag die Zahl der Beiträge ansonsten auch überschaubar sein - sobald klar ist, dass da vorne gerade ein armes Opfer steht, sehen sich plötzlich alle genötigt zu helfen und es prasseln von überall her die Kommentare ein, was den Zustand des Verlorenen nur noch verschlimmert. Glücklicherweise kann das Problem relativ schnell gelöst werden, indem man den Verdummungsradius, der näherungsweise 0,5261 m beträgt (Naturkonstante), durch Zurücktreten verlässt** und damit die sogenannte intelligible Zone betritt. Innerhalb dieses Bereichs ist sinnvolles Lernen und Einsicht in eigene und fremde Fehler grundsätzlich möglich und hier halten sich meist auch diejenigen auf, die das tun. Und welch Wunder! Allein die Distanz zum Objekt der Verwirrung bewirkt eine nie gekannte Klarheit! Und klar wird auch, warum es für Schülerinnen und Schüler der blanke Horror ist, allein und nur mit einem Stück Kreide bewaffnet dem dunkelgrünen Monster entgegentreten zu müssen (Smartboards und digitale Stifte machen es nicht besser). Niemals fühlte man sich verlorener als in nächster Nähe zu dem verwirrenden Ungetüm, niemals geborgener als in der Sicherheit des eigenen Sitzplatzes, von dem aus man bereit ist allerlei Vermutungen zu äußern.

Aber Vorsicht! Die intelligible Zone ist nicht grenzenlos – sie erstreckt sich nur bis ca. 6 m Entfernung von der Tafel. Dahinter liegen dann die endlosen Weiten des Nullcheckerraums, wo das Hintergrundrauschen der Privatgespräche jedes kommunikative Signal herausfiltert und die Tafel nur noch als fernes Glimmen am Horizont zu erahnen ist. Das spielt bei den meisten Räumen keine Rolle, bei einigen aber schon, z.B. bei meinem eigenen Klassenraum 5104, der eigentlich aus zwei Räumen besteht und in dem ich die letzte Reihe künstlich nach vorne verlegt habe, um nicht Teile des Publikums von vornherein völlig zu verlieren. Merkwürdigerweise folgt das Sitzplatzwahlverhalten oft dem umgekehrten Schema: Wer wenig Ahnung hat und dringend am geistig wärmenden Feuer der intelligiblen Zone sitzen sollte, verzieht sich lieber in die letzte Reihe; wer grundsätzlich einen Plan von den Inhalten hat und das Geschehen auch von weiter hinten verfolgen könnte, der sucht dennoch die Nähe des Fortschritts. Doch so ganz nah ran an die Wissens-Werbefläche, das trauen sich nur die wenigsten, und wenn, dann meistens bewaffnet mit sämtlichen Aufzeichnungen und Geräten, die man für einen Tafelanschrieb noch so brauchen könnte. Ein ehemaliger Kollege bestand immer darauf, dass man solche Dinge ohne die Gedächtnisstütze des eigenen Hefts vollbrachte – wer die Aufgabe wirklich durchdacht habe, so sein Argument, der bekomme das an der Tafel auch noch ein zweites Mal hin. Solcherlei Mut ist jedoch selten geworden in unseren Zeiten, wo zum geschriebenen Wort in der Mappe nicht mehr unbedingt die 1:1-Kopie im Langzeitgedächtnis existiert.

Wem es also zu wohl geworden ist in seiner Rundumsorglosigkeit, der wage doch mal den Thrill: Kann ich spontan ohne auf die Musterlösung zu schielen eine Buchaufgabe vor Publikum lösen? Topp, die Wette gilt!

* benannt nach Kai Maria Gottlieb von Leferink, deutscher Physiklehrer und Hobbyphilosoph, der nach Stiglers Gesetz der Namensgebung natürlich nicht der wahre Entdecker des Phänomens ist (selbst Stigler ist nicht der wahre Entdecker seines Gesetzes!).

** Ein absoluter Lifehack: einen Schritt zurücktreten. Sollte man viel öfter machen.