Manchmal kommt es mir so vor, als sei ich ein Deutschlehrer, gefangen im Körper eines Lateinlehrers. Für echten Deutschunterricht fehlt mir das innere Weitwinkelobjektiv, das Kapitel, Bücher, Epochen überblickt. Ich mikroskopiere lieber, das heißt, ich schraube an Sätzen, Formulierungen und oftmals einzelnen Wörtern herum, bis sie gut klingen. Und da komme ich manchmal nicht umhin, auf einigen dieser Wörter mal länger herumzukauen. Heute mal auf dem kleinen, aber vielschichtigen Wort „wohl“.

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Wohl, das ist ursprünglich ein Adverb oder Synonym für „gut“, das merkt man an diesem mittelalterlichen Beigeschmack, den seine Verwendung immer an sich hat: „Wohl gesprochen, Meister Jakobus! Nun wollen wir geruhen zu tafeln!“ Auch der Vater auf dem Pferd auf der Flucht vor dem pädophilen Erlkönig hat den Knaben wohl in dem Arm, was nicht heißen soll, dass dem vielleicht so ist, sondern auf jeden Fall und auch ziemlich fest. Und in früheren Zeiten konnte es passieren, dass der Diener auf eine Anweisung ein knappes „Sehr wohl“ erwiderte, was sich semantisch jetzt nicht sofort aufdrängt. Vielleicht möchte er damit sagen: „Ausgezeichneter Befehl, mein Gebieter! Nur Ihr konntet Euch einen so gelungenen Auftrag ausdenken! Ich will ihm sofort Folge leisten!“

Wer mit so einem Sprachgebrauch aber heutzutage noch um die Ecke kommt, ist mit „verschroben“ noch sehr wohlwollend umschrieben. Apropos: wohlwollend. In Zusammensetzungen hat sich der ursprüngliche Charakter noch erhalten. Noch heute fühlt man sich wohl immer noch besser als gut – wohlfühlen, das hat etwas Kuscheliges, Gemütliches, Geborgenes. Wohlig, da kann man den Kamin schon fast riechen.

Eine ganz andere Karriere hat das Wort als Frageanhängsel gemacht: Während meines Studiums erzählte ein Kommilitone die Anekdote, ein Freund habe mit folgender Anfrage bei ihm zu Hause angerufen: „Hallo, ist Tobias wohl da?“. Dies verleitete seine Mutter zu dem Ausruf: „Tobias, da ist jemand aus Norddeutschland für dich am Telefon!“ Aber ich verstehe den Anrufer, man braucht dieses „wohl“ einfach, es polstert die ansonsten viel zu direkte Frage angemessen aus und menschelt den Angesprochenen voll um! Kann es wohl sein, dass du beim Friseur warst? Dazu noch dieses gefühlt eingebaute Hintertürchen, falls die Antwort negativ ausfallen sollte.

Mir selbst ist „wohl“ zuerst im Kindergartenalter begegnet, und zwar als Signalwort in fantasiebasierten Draußenspielen, in denen Stöcke und Steine eine tragende Rolle spielen. Als Abgrenzung zur langweiligen Realität werden die Regieanweisungen zur folgenden Szene mit diesem Wort markiert: „Ich bin wohl She-Ra und du bist wohl He-Man und kämpfst wohl gerade gegen Skeletor.“ Müsst ihr googeln, Kids, so viel Zeit hab ich nicht. Das ist der transzendente, irreale Aspekt von „wohl“, man findet ihn noch heute in manchem Spott wieder: „Du willst mich wohl vergackeiern!“ oder „Da hat wohl einer zu tief ins Glas geschaut, wie?“ Man weiß nicht, ob es wirklich wahr ist, aber allem Anschein nach ist es wohl so. Das macht sich nicht zuletzt jede Zeitung zunutze, die dem Wahrheitsgehalt ihrer eigenen Schlagzeile nicht so recht über den Weg traut. „Hecking vor Suspendierung“, das ist zu heiß, zu justitiabel – „Hecking wohl vor Suspendierung“, das kann alles und nichts bedeuten.

Das ist aber noch längst nicht alles. „Wohl“ ist auch eine argumentative Allzweckwaffe. Kennt jeder: „Bret Hitman Hart ist der beste Wrestler der Wehelt!“ – „Stimmt ja gar nicht!“ – „Stimmt ja wohl!“ – „Nicht!“ – „Wohl!“. Kann man theoretisch mit genügend Puste endlos weiterspielen.

Das kleine „wohl“ kann sich sogar zum Substantiv aufpumpen und wird dann zum persönlichen Wohl, das ist die Abkürzung für Wohlergehen oder Wohlbefinden, sowas wie Gesundheit, aber inklusive Gut-drauf-Sein. Und darauf kommt es letzten Endes doch wohl an, nicht wahr, liebe Leserinnen und Leser?

Wohlan denn, in diesem Sinne entbiete ich euch ein wohliges Weihnachtsfest mit vielen Wohlfühl-Momenten und wohl auch ein wenig Zerstreuung. Für das neue Jahr wünsche ich euch viel Wohlwollen, wohlmeinende Menschen um euch herum und einen wohl geratenen Neuanfang in 2025. Zum Wohl!