Genug gejammert. Ich hab’s gemerkt. In der letzten Episode war ich wieder in meinem Element – Mann, was hab ich es auch schwer, der ich Klausuren erfinden, bearbeiten lassen und dann beurteilen muss!
Heute werfen wir mal einen Blick auf die andere Seite.
Auf der Grauenskala deutscher Schüler*innen, die eine schriftliche Ausarbeitung mit einer harmlosen Zwei und eine mündliche Prüfung mit einer soliden Neun ausweist (man braucht ja noch Potential zur Steigerung), belegt die Klausur im Schnitt eine Sieben. Nicht ganz so stressbehaftet wie vor dem Tribunal Rede und Antwort zu Effi Briest zu stehen, denn man muss sich die Aufmerksamkeit der aufsichtsführenden Person – sofern vorhanden* – mit sechsundzwanzig anderen teilen. Aber auch nicht so chillig wie das beliebig aufschiebbare Hinferkeln einer halbwegs annehmbaren Ausarbeitung, denn die Uhr tickt.
Dazu dieser Nebel der quälenden Ungewissheit, der sich erst dann lichtet, wenn das Aufgabenblatt auf dem Tisch liegt und man sieht, was drankommt.
Aber nochmal von vorne: Wozu überhaupt Klausuren, Klassenarbeiten, Lernkontrollen, Tests oder wie auch immer sie sich schimpfen? Zur Erhebung der individuellen Lernleistung, denn ohne die könnten sich Leon oder Nicole mit beflissenem Nicken, einigermaßen vollständigen Hefteinträgen und „Das wollte ich auch gerade sagen!“ durchs Schuljahr hangeln. Vor der Klausuraufgabe zählt jedoch wie vor Gericht nur die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Und die, so der Grundgedanke, eignet sich der Schüler oder die Schülerin im Laufe einer Unterrichtseinheit an, legt sie an einem gut auffindbaren Ort im Langzeitspeicher ab, um dann jederzeit darauf zurückgreifen zu können. Soweit die Theorie.
In der Praxis wird erstmal alles ohne nachzudenken von der Tafel abgeschrieben und mehr oder weniger säuberlich abgeheftet, wie ein Hamster, der alles Essbare erstmal in seine Vorratshöhle schleppt, ohne so genau darauf zu achten, was er da eigentlich in den Pfoten hat.
Kommt dann die unheilschwangere Ankündigung „in zwei Wochen schreiben wir Klausur!“, beginnt für viele dann das große Fressen: Alles Niedergeschriebene muss wieder hervorgekramt, gelesen und gegebenenfalls auswendig gelernt werden. Viel zu viel in viel zu kurzer Zeit. Der Hamster bekäme längst Bauchschmerzen. Und die werden dann zwei bis drei Tage vor dem Prüfungstermin sicherheitshalber zu Hause auskuriert, für andere – vielleicht ebenfalls wichtige – Dinge hat das tapfere Schülerlein nun leider keinen Nerv mehr.
Bis zum Platzen gefüllt sitzt dann der Kopf am erlösenden Tag vor dem Aufgabenblatt, doch bevor es losgeht, muss man sich unbedingt noch gegenseitig vergewissern, dass man die richtigen Datensätze gefressen hat, was praktischerweise direkt vor dem Austeilen der Aufgabenblätter stattfindet, um allen Beteiligten nochmal schnell einen Kick zu verpassen.
Wen angesichts des leeren Blattes nicht der horror vacui ereilt, der beginnt dann sofort literarisch alles auszuspeien, was das Langzeitgedächtnis hergibt, egal, was die Aufgabenstellung gerade will: Den vorliegenden Text mit Piagets Entwicklungstheorie vergleichen? Ist gerade schwierig, aber ich könnte zwei Seiten lang von Banduras Selbstwirksamkeitskonzept berichten, wie wäre es damit?
Der Speicherplatz, den das Gelernte zuvor einnahm, wird durch das Aufschreiben übrigens blitzformatiert und steht dann ohne störende Datenrückstände zum Neubeschreiben in der nächsten Unterrichtseinheit wieder zur Verfügung. Das ist gelebte Nachhaltigkeit!
Drei Wochen, siebzehn Tassen Kaffee und zwei Rotstifte später ist dann nur noch eine einzige Zahl wichtig, auf die sich bei der mit Spannung erwarteten Rückgabe die gesamte Aufmerksamkeit richtet (und wenn die Lehrkraft sich noch so viel Mühe mit den Randkommentaren gegeben hat…). Die Motivation, das Machwerk noch zu berichtigen und ausführlich zu besprechen, hält sich stark in Grenzen, wir wollen es ja nicht übertreiben mit dem Lernen. Am Ende käme man vielleicht noch zu der Erkenntnis, dass das alles ja eigentlich gar nicht so schwierig ist. Und das würde doch dem Ganzen den Spaß nehmen.
* die Aufmerksamkeit, nicht die Person