„Herzlich willkommen an der IGS Aurich!“ „Wir freuen uns auf dich!“ „Bist du auch so aufgeregt?“ Ich gehe den Fußweg am Fahrradständer entlang zum Haupteingang. Es ist Mitte August und ein neues Schuljahr schickt sich an zu starten. Der Weg, den ich gehe, ist derselbe, den morgen oder übermorgen die neuen Fünftklässler*innen gehen

„Herzlich willkommen an der IGS Aurich!“

„Wir freuen uns auf dich!“

„Bist du auch so aufgeregt?“

Ich gehe den Fußweg am Fahrradständer entlang zum Haupteingang. Es ist Mitte August und ein neues Schuljahr schickt sich an zu starten. Der Weg, den ich gehe, ist derselbe, den morgen oder übermorgen die neuen Fünftklässler*innen gehen werden. Mit ängstlich-respektvoll gesenktem Kopf vermutlich, denn das Schulgebäude, das sie gleich betreten werden, ist schon ein paar Nummern größer als ihre beschauliche Grundschule, die in den letzten vier Jahren ihre Heimat war. Doch statt grauer Pflastersteine werden ihre Augen die Botschaften sehen, die mit bunter Kreide dort hingeschrieben wurden. So wie ich jetzt gerade. Und sie werden sich besser fühlen, eine leichte Gänsehaut bekommen und ihre Mundwinkel werden sich zumindest ein paar Millimeter heben. So wie meine jetzt gerade.

Wenn sie dann im Gebäude angekommen sind und ihr Blick durch die großen Flure schweift, werden sie noch mehr solcher Botschaften sehen: „Einfach mal machen – könnte ja klappen!“ – „Ich bin noch nicht da, aber ich bin schon weiter als gestern.“ – „Sei stärker als deine stärkste Ausrede!“ Und mein Favorit: „FEHLER sind HELFER!“ Bestes Anagramm ever.

Bild Mr. HO 162

Mancher mag das naiv finden. Kuschelpädagogik!

Ich finde es genial.

In einem Schulsystem, in dem viel über Ein- und Aussortieren, Ab- und Umschulen nachgedacht wird und in dem Abschlüsse immer weiter entwertet werden, so dass das Abitur für viele als einzig sinnvoller Ausweg aus dem Labyrinth Schule erscheint, produzieren wir zwangsläufig eine Menge Absolvent*innen, die daran scheitern. Mehr noch, die sich als Gescheiterte begreifen.

Da sind die vielen Mutmach-Sprüche wie eine warme Dusche im kalten Badezimmer Schullandschaft, die uns daran erinnern, wie Schule – und insbesondere Gesamtschule – einmal gedacht war: Jeder und jede versucht das Beste aus den eigenen Möglichkeiten zu machen. Für jeden und jede gibt es einen Platz im System. Und jeder und jede kann etwas bewirken. Und dafür braucht es Motivation. Die kostbarste Währung der Pädagogik. Motivation ist schwer zu vermitteln, viel schwerer als Kommasetzung und der Dreisatz. Es ist, als würde man gleichzeitig in 28 Ruderbooten sitzen, die flussabwärts treiben – und sobald man aufhört, mitzurudern, reißt der Fluss ein Boot wieder ein paar Meter zurück. Zum Motivieren muss man Ziele definieren und verdeutlichen, wie viel – oder besser: wie wenig – noch zu deren Erreichen fehlt. Man muss in schwierigen Phasen wiederholen – immer und immer wieder. Man muss den Lernstand kennen, um lobend zu erwähnen, was schon erreicht wurde. Und man braucht bei scheinbar hoffnungslosen Fällen ein gutes Auge für selbst kleinste Errungenschaften.

Was für ein Segen sind da die guten Botschaften, denn sie werden jeden Tag gelesen. Kostenlose Motivation ohne Anstrengung. Und wer nun denkt, dass die bunten Schilder nach dem ersten Lesen einfach ignoriert werden und nichts bewirken, der mache folgendes Gedankenexperiment: Denke an ein beliebiges zuckerhaltiges Erfrischungsgetränk.

Wenn ich jetzt raten müsste, an welches Getränk dabei die allermeisten denken, würde ich behaupten: Coca Cola. Und warum? Weil wir seit dem Tag unserer Geburt jeden Tag auf bunte Schilder blicken, auf denen Coca Cola steht. Werbung funktioniert. Nicht beim ersten Blick auf die Reklametafel. Aber nach dem hundertsten.

Einmal war ich Protokollant bei einer mündlichen Abschlussprüfung. Der Prüfer verließ den Raum, um den Prüfling abzuholen, kehrte jedoch kurz darauf schon wieder zurück – ohne Prüfling. Dieser sei zu spät gekommen und habe gesagt: „Geben Sie mir doch gleich die Sechs.“ Motivationskonto eindeutig im Minus.

Der Prüfer aber motivierte den Prüfling, die Prüfung trotzdem abzulegen. Er bestand sie schließlich mit der Note Drei.