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Mittwochmorgen, 8 Uhr. Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln die Netzhaut, der Kaffeeduft in der Nase bringt die Synapsen auf Betriebstemperatur, erwartungsvoll sitzt das pädagogische Publikum mit gefalteten Händen an den Pulten. Jetzt wäre eigentlich Zeit für das eröffnende „So!“, doch gerade als die Hand zur Kreide greift, ertönt ein infernalisches Dröhnen von draußen. Je nach Jahreszeit ist es einer der folgenden Störenfriede: der Laubbläser (ein Abziehbild der gesamten modernen Zivilisation: Unter möglichst viel Getöse und Verbrennung fossiler Kraftstoffe wird ein Problem nicht gelöst, sondern nur aus dem Sichtfeld befördert), der Rasenmäher (denn nach zehn Uhr kommt man dem schnellwachsenden Zeug nicht mehr bei – man muss es erwischen, solange es sich im morgendlichen Halbschlaf nochmal umdreht) oder der Todesstern. Es wird außerdem seit gefühlten Jahrzehnten überall an der Schulbausubstanz gehämmert, gebohrt und gefeilt – ein Zustand wie beim Kölner Dom: Irgendwo steht immer ein Gerüst. Es kommt uns Beteiligten des Bildungsbetriebs mitunter so vor, als würde man uns noch während des Unterrichts das Gebäude unter dem Hintern weg abtragen. Angstvoll wandert der Blick immer wieder zur Decke, ob der Schlagbohrer gleich durchbricht.

Aber selbst bei völliger Stille hält die Umwelt so einige Widrigkeiten bereit, vor allem in den unteren Klassen: Schnee, Hagel, Starkregen, ein Eichhörnchen, manchmal genügt schon der Mülllaster, um sie alle zum Fenster stürzend jede Contenance verlieren zu lassen. Aber damit nicht genug: Es gibt ja auch noch die innerunterrichtlichen Störungen. Sammy kann nicht aufhören, vom Wochenende zu erzählen, alle fünf Minuten meldet sich von irgendwem die Konfirmandenblase (bzw. die Kommunionsblase bei Katholiken, die Bar-Mizwa-Blase usw.), Daniela hat ihre Sachen vergessen und muss nochmal in ihren Klassenraum, Max und Moritz gedenken, ihren Pausenkonflikt auch zum Thema der folgenden Unterrichtsstunde zu machen, zwischendurch ertönt noch achtmal der Durchsagegong, ohne dass jemand etwas sagen würde, Mehmet hat vergessen sein Handy auszuschalten…

Der Kopf ist rund und eine Doppelstunde dauert 90 Minuten. Ja, in der Theorie. Davon darf man bei der Unterrichtsplanung ruhig mal fünf Minuten als Störpauschale abziehen. Aber Moment… bei ca. 27 Schulwochen (im Schuljahr 2020/21) mit je 17 Doppelstunden pro Woche sind das 2295 Minuten im Jahr, die ich mir Rasenmäher und Bohrmaschinen anhöre! Das sind anderthalb TAGE! Da muss man doch bescheuert werden. Jedesmal den verlorenen roten Faden wieder aufsammeln, die Motivation wieder aufpumpen und 28 Augenpaare dorthin dirigieren, wo sie hingehören – das kostet echt Kraft. Und man möchte doch, dass aus ihnen später nicht diese prokrastinierenden Ablenkungsfetischist*innen mit einer Aufmerksamkeitsspanne von Zwölf bis Mittag, die nicht mal bemerken, dass diesem Satz etwas entscheidendes fehlt.

Aber es bringt nichts, damit zu hadern. Sehen wir jene Momente des Dröhnens und Eichhörnchenguckens also als Chancen zur kurzen inneren Einkehr, zur Selbstvergewisserung und um den gerade erteilten Lernstoff durch den Gedächtnisfilter tröpfeln zu lassen, auf dass möglichst viel darin hängenbleibe.

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Die ganz Cleveren haben den Aufmerksamkeitsverlust nicht nur schon von vornherein eingepreist, sondern können solche Situationen sogar noch gewinnbringend nutzen: Sammy darf seine Story zu Ende erzählen und am Ende der Stunde muss jeder aus dem Gedächtnis eine Kurzzusammenfassung bringen. Danielas Zeit beim Besuch im Nebenraum wird gestoppt – kann sie ihren Rekord vom Dienstag knacken? Max und Moritz werden zu Streitparteien vor dem eilends einberufenen Klassengericht, in dem jede/r eine Rolle zugewiesen bekommt. Ganz große Pädagogik. Und für wen das nichts ist, der tröste sich mit der Gewissheit, dass seine Schüler*innen aufrichtiges Interesse an einem Phänomen des Alltags gezeigt haben. Yay!

So, jetzt sollte hier eigentlich eine gute Schlusspointe kommen, aber wegen des viel zu lauten Lüfters vom Smartboard fällt mir leider keine ein. Ein andermal.