Was ist der Unterschied zwischen der Mittelstufe und der Oberstufe?
In der Mittelstufe klagt man, weil die Schüler*innen im Nachbarraum so laut sind.
In der Oberstufe, weil die Lehrkraft so laut ist.
Auf alle möglichen Eventualitäten bereitet einen das Referendariat vor*, nicht jedoch auf Unterrichtsstörungen durch andere Lehrkräfte. Dabei kommt es nicht selten vor, dass man – sei es wegen der Leichtbauweise mancher Wände, sei es wegen offenstehender Türen aufgrund des Lüftungsgebots – gegen die Dauerbeschallung des Lehrer*innenvortrags anreden und dabei feststellen muss, wie einzelne Köpfe im Publikum schon irritiert zwischen den beiden Geräuschquellen hin- und herwackeln, unentschlossen, welches Thema gerade mehr interessiert (bzw. weniger), Integralrechnung oder Fausts Zwiespalt. Zu viel akustischen Raum nimmt da Herr oder Frau (meistens Herr) Nachbar ein, quasi die Bergpredigt im Kasernenhofton, Ben Hur trifft auf Scooter. Man ertappt sich dabei, dass man heimlich mithört und auf den Zeitpunkt wartet, wenn die Aufgabenstellung zu Ende formuliert ist und sich geschäftiges Schweigen einstellt, auf dass nur noch das Kratzen der Bleistifte zu hören sein möge. Doch der Zeitpunkt kommt nicht. Was läuft da nebenan gerade ab? Sind die Parallelkursler*innen so schwer von Begriff, dass man ihnen das Verlangte immer und immer wieder neu servieren muss, bis sie endlich anbeißen? Verzichtet man nebenan gleich ganz auf das Konzept der Schülerantwort und liefert sie, anhängend an die Frage, gleich mit? Sind wir Zeugen der vehementesten Lesung der Leviten seit dem 15. Jahrhundert? Liest sich die Deutschlehrkraft in Ermangelung ausdrucksstarker Leser*innen mit allen Rollen durch den kompletten zweiten Akt von Wilhelm Tell? Deklamiert sie Schülerlösungen, deren Erschaffer*innen wegen ihres schwächlichen Organs jeden Mut verloren haben, sich jemals wieder im Unterricht zu äußern?
Es gibt noch eine andere Begründung, aber dafür müssen wir in die Abgründe der Lehrerseele vordringen. Bleibt dicht hinter mir! Und nicht nach unten schauen!
Biegt man nämlich im Großhirn hinter der pädagogischen Sozialisation links ab, erreicht man ein schummriges Amphitheater, wo eine kleine Allegorie rund um die Uhr vor leeren Rängen performt, was das Zeug hält: Es ist das Showtalent. Und je nach Ausprägung vermag es so einiges aus dem Arsenal der Unterhaltungsindustrie auf die Bühne zu bringen, von Schauspielerei und Kleinkunst, Standup-Comedy und Kabarett bis zum Nonstop-Witzeerzählen. Aber hallo! Oft beherrscht es die hohe Rhetorik in verschiedenen Stilen. Es würde auch jonglieren, bauchreden oder mit einem Diavolo hantieren, wenn das Publikum es wünschte. Und genau da liegt das Problem: Das Showtalent hat kein Publikum. Es hat nur eine mehr oder weniger überschaubare Gruppe Minderjähriger, die selten Ahnung von großer Kunst hat und die Darbietungen kaum zu würdigen weiß. Aber dennoch: Sobald das Showtalent aufgeregt durch den Vorhang blinzelnd Menschen, die zum Zuhören angehalten sind, erspäht, ist es um seine Zurückhaltung geschehen. Denn, das weiß es genau: Die Zuhörer*innen werden nicht vorzeitig die Show verlassen – weil sie es nicht dürfen. Viel zu oft wurde das Showtalent im Privatleben vielleicht schon ignoriert oder gar von der Bühne geholt, aber nun kann niemand mehr ignorieren, was es zu sagen hat. Schülerzentrierter Unterricht? Schnickschnack, jetzt rede ich, und zwar nicht zu knapp! Schließlich steht doch die Performance im Dienste der Wissensvermittlung! Wenn der Erlkönig nicht mit dem gebotenen Impetus vorgetragen wird, wenn die Entdeckung der Zahl Pi nicht über alle Jahrtausende gewürdigt wird, wenn die globalen Konsequenzen des Kalten Kriegs nicht in epischer Breite aufgedeckt werden, dann erkennt doch niemand ihre enorme Bedeutung! Wahre Worte spricht man nicht gelassen aus!
Trotzdem verlässt das Schüler*innenpublikum ohne Applaus das Theater, was das Showtalent für einen kurzen Moment deprimiert zurücklässt. Aber die Trauer währt nur kurz, denn schon in zwanzig Minuten heißt es wieder: The show must go on!
* siehe auch Episode 90: „Ich glaub, mein Eichhörnchen hämmert!“