Ich kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte,
und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.
- Bilbo Beutlin
Jahrgang 10 verlässt die Schule. Wieder sechs Jahre um. Ein Fingerschnippen. Höchste Zeit also für einen Seelen-Kehraus, einen psychischen Kassensturz sozusagen, ohne die Rührseligkeit einer Abschiedsrede, ohne die Verklärung einer Abschlusszeitung. Keine Einzelschicksale, sondern das große Ganze. Zurücktreten und das Bild betrachten.
Was sind das für junge Leute, die wir in die Freiheit des Arbeitsmarkts (oder die eingeschränkte Freiheit von Berufsschule oder Oberstufe) entlassen? Fest steht, sie haben einiges mitgemacht. Manche Klassen haben in diesen sechs Jahren fünfzig (!) verschiedene Schüler*innen gesehen. Da sind natürlich alle mitgezählt, von der Karteileiche, die niemals vorstellig geworden ist, bis zum alten Hasen, der von Anfang bis Ende dabei war, aber eben auch die Durchreisenden, die Heimatsuchenden, die falsch Abgebogenen, die Unentschlossenen, die Weltenbummler. Was das mit einer Klassengemeinschaft macht? Abgesehen davon, dass Freundschaften ständig neu geknüpft werden müssen und die Sozialstrukturen immer im Fluss sind – geschenkt, das sind sie ohnehin. Aber auf einer tieferen Ebene fehlt manchmal ein Gruppengefühl, eine Identifikation. Mit der Klasse, mit dem Jahrgang, mit der Schule. Wer auf keine gemeinsame Geschichte zurückblicken kann, tut sich schwer damit, sie weiterzuerzählen. Doch selbst wenn man Schulklassen nüchtern als pädagogische Zweckgemeinschaften auf Zeit sieht, muss man doch feststellen: Identifikation erzeugt ein Selbstbewusstsein abseits von erfolgreich absolvierten Tests und Referaten. Identifikation sorgt für Verantwortungsbewusstsein, die Bereitschaft, Energie, Zeit, Leidenschaft zu investieren für Dinge, die von niemandem beurteilt und dann in Zensuren gegossen werden. Diese Bereitschaft habe ich manchmal vermisst.
Natürlich muss die Frage erlaubt sein, inwieweit Schule heutzutage überhaupt noch eine Plattform zur Identifikation sein kann, eine Erweiterung des eigenen Zuhauses, wo man aufrichtig von „Spirit of School“ spricht und nicht mit SOS abkürzt. Dann wäre das, was wir gesehen haben, also kein Phänomen einer kleinen Gruppe, sondern einer gesamten Gesellschaft, die ihre eigene Version von Cancel Culture entdeckt hat: Das Bestreben, sich in jeder Lebenslage möglichst lange alle Optionen offenzuhalten, keine allzu festen Bindungen einzugehen und bei Bedarf sehr kurzfristig per Whatsapp abzusagen.
Und ganz klar, dieser Jahrgang hat wie alle eine weltweite Pandemie mit allen Begleiterscheinungen mitgemacht, wobei der tägliche Gang zum Abholen einer Unterschrift sicherlich noch die harmloseste war. Gravierender war die Vereinzelung der Schülerschaft. Alphabetisch halbierte Klassen mit Einzeltischen und halb verhüllten Gesichtern. Pausenaufenthalt unter klinischen Bedingungen. Gestrichene Klassenfahrten. Hilfslosigkeit und Verdammtsein zur Passivität. Alles kein guter Dünger für eine gelingende Gemeinschaft.
Aber, wie Liam Gallagher sagt: „Don’t look back in anger“ und das habe ich auch nicht vor. Wer mich kennt, weiß, dass meine Artikel niemals so kritisch enden wie sie beginnen und das kann auch in Folge Einundelfzig nicht mein Ernst sein. Also: Vor diesem Jahrgang liegt wie vor allen Abschlussjahrgängen die Zukunft und ich habe bei keinem und keiner der jungen Leute das Gefühl, sie wären darauf nicht vorbereitet. Ich habe auch in diesem Durchgang wieder Schüler*innen gesehen, die über sich selbst hinausgewachsen sind, die ihre Leidenschaft für bestimmte Themen entdeckt haben, die den Weg des Scheiterns verlassen haben und gestärkt aus ihrer persönlichen Krise hervorgegangen sind. Und darum geht es am Ende: Stand in der Vergangenheit alles zum Besten – oder habe ich das Beste aus der Vergangenheit gemacht? Die Zukunft wird es zeigen.