Ein Abschied verleitet immer dazu, etwas zu sagen, was man sonst nicht ausgesprochen hätte.
- Michel de Montaigne
Die Tragik des Anstands will es, dass niemand seine eigene Abschiedsrede selbst verfasst. Tragik deshalb, weil wir in diesen Tagen einen der, wenn nicht DEN Kollegen schlechthin verabschieden, der es wie kein zweiter verstand (Präteritum, schnief!), solche Abschiedsreden für andere Kolleg*innen rhetorisch mit höchster Kunst auszugestalten und auf dessen Kunst wir künftig also verzichten müssen.
Diese Aufgabe werde ich auch nicht übernehmen, das verlangt wiederum die kollegiale Etikette. Ich könnte natürlich sagen, dass ich ihn für seine zahllosen pädagogischen Abenteuer, humoristischen Dialoge und selbstbezüglichen Witze, deren Connaisseur er ist, überaus schätze und ebenso sehr sein Fan bin wie er behauptet, der meine zu sein, dass ich hoffe, weiterhin beim Badminton mit ihm die Klingen kreuzen zu können und dass ich trotz fast leerer fachlicher Schnittmenge ein tiefes Bedauern empfinde, dass er bald nicht mehr zur Schule kommt. Und damit lasse ich es bewenden, damit dieser Text nicht vollends zum Nachruf gerät.
Er hat mir eine letzte Kooperation angeboten, eine Betrachtung der jüngsten Gesamtkonferenz aus dem Blickwinkel der Antike und Renaissance, zu der ich meinen Senf dazugeben sollte, was ich vielleicht auch getan hätte, wäre ich seinerzeit dabei gewesen. So aber ziehe ich mich aus der Affäre und überlasse dir, lieber Alexander, diesmal ganz allein die Bühne. Viel Spaß!
Der Smalltalk verstummt. Vor uns: Die Sitzordnung des Podiums in der Gesamtkonferenz. Da Vincis Abendmahl ist nichts dagegen: Die Symmetrie ist ganz auf den Mittelpunkt ausgerichtet (Perspektive!), die wichtigsten Jünger an seiner / ihrer Seite. Ganz außen das Protokoll. Der entscheidende Unterschied zur Renaissance ist die Dynamik. Genauer gesagt, das Ringen um den guten Ton mit Verstärkung. Denn die Tücken der Technik führen zu allerhand Verrenkungen. Das Mikrofonkabel verheddert sich über die Maßen, umschlingt Körper und führt zu derartigen Verrenkungen, dass es sich nur um eine szenische Interpretation des Laokoon-Mythos handeln kann. Das Kabel sind die Schlangen, die vom Gott Apollon geschickt werden, als der Vater Laokoon es wagt, eine Lanze gegen das Trojanische Pferd zu schleudern. Das war natürlich eine Warnung im Sinne der Wahrheit. Aber darum geht es in der Gesamtkonferenz,…äh.. im Mythos natürlich nicht, sondern um die Macht der Götter. Die Söhne des Laokoon sind völlig verstrickt in die Angelegenheit. Eine Distanzierung vom Vater kommt nicht in Frage. Lieber gemeinsam untergehen.
Also ist man bemüht, sich das Kabel vom Leib zu halten, es erst vor, dann hinter der Gruppe entlang zu führen. Das Publikum begreift die Tragik überhaupt nicht und amüsiert sich auch noch. Inkorrekte Sprüche werden gar laut von notorischen Vertretern toxischer Männlichkeit („Frauen und Technik“), Forderungen nach Vorziehen der Pause… da… ist das Mikrofon endlich bei dem Schulleitungsmitglied (die weibliche Form ist mitgedacht) angelangt, das als nächstes Mitteilungen verlesen soll, nein doch nicht, erst mal soll ganz auf der anderen Seite des Podiums gesprochen werden. Neue Verstrickungen, Rückkopplungsgeräusche, Geraune auf den Rängen, dann … endlich… das Neueste zur Themenzeit, zum Glück.
Die Schule hätte natürlich auch Headsets. Aber die könnten auch Irritationen auslösen wegen ihrer ikonischen Nähe zu populären Tanz-Shows. Nachher werden am Podium noch kleine Schilder mit Nummern hochgehalten, die in der Summe den Wert von Wortbeiträgen aus dem gemeinen Konferenzvolk anzeigen. Also lieber ein gutes altes Mikrofon mit Kabel und Verrenkungen. Das hat ganz einfach mehr Unterhaltungswert.
Bestimmt kein Zufall, dass dieser Text mit genau diesem Wort endet.
Alles Gute für den Ruhestand, Alexander!
Dein Mr. HO