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Wir schreiben das Jahr 1993. Meine Tante überlässt mir dankenswerterweise ihren abgelegten Personal Computer – natürlich kein High-End-Gerät, sondern ein kohlebetriebenes Vorkriegsmodell mit flackerndem Schwarz-Weiß-Röhrenmonitor, verpackt in einem Gehäuse in diesem unbeschreiblichen Farbton, beige-gelb-grau (ich glaube, heute sagt man „mauve“ dazu), nebst einem Nadeldrrrrrrrucker, der jedesmal klanglich die Apokalypse einläutet, wenn er um einen Ausdruck gebeten wird. Aber ich bin selig. Nicht weil man damit Spiele spielen könnte (nein, die Bezeichnung „Games“ hatten diese Dinger nicht verdient!), dafür aber Texte schreiben und ausdrucken! In die Ecke, Tintenfüller! Dazu der O-Ton meiner Tante: „Damit kannst du ja auch deine Hausaufgaben machen!“ Ja, genau, warum auch nicht?

Das war die erste Verbindung von EDV und Schulwesen, die in mein Leben trat. Eine damals einigermaßen abwegige Vorstellung, denn: Computer in der Schule? Das überließ man besser den Profis, also den dick bebrillten Jungs mit den Victory-Turnschuhen, den silbernen Digitaluhren und dem seltenen Deodorant „Eau de Púmakäfig“. Au weia – dafür fünf Mark ins Klischeeschweinchen.

Wenig später nahm die Beschulung in digitalen Medien schon halbwegs organisierte Formen an, das heißt, eine ganze Klasse ohne nennenswerte IT-Vorkenntnisse konnte gleichzeitig unter der Aufsicht einer meist ebenso unerfahrenen Lehrkraft am Rechner daran scheitern, ein Textdokument zu erstellen. Und zwar so nachhaltig, dass sich selbige im Nachklapp hoch und heilig schwor, so etwas nie wieder zu versuchen. Wozu sollte man sich das überhaupt antun? Nur weil irgendwelche selbsternannten Cyberpropheten am Horizont das digitale Zeitalter aufziehen zu sehen glaubten? Computer says maybe.

Aber dann: Der Einzug des Internets. Wirf die Schulbücher weg, wir googeln jetzt!* Es gibt auch Methodentage, an denen man das gezielt lernen und anwenden soll. Aber wenig Echo im Gewohnheitstierpark, zu hoch sind noch die technischen Hürden für viele Lehrkräfte, zu groß der potentielle Frust.

Und schwupps, einmal das Smartboard kalibriert und plötzlich ist es 2010 und die Kinderlein haben auf einmal alle einen tragbaren Computer dabei, mit dem man sich wunderbar beleidigende Nachrichten (CAPTAIN CAPS LOCK IN DA HOUSE!!!1!1!) und kompromittierende Bilder zuschicken kann. Ach ja, und mit IT nach Hause telefonieren, weil Hugo-Egon mich voll gemobbt hat (jaja, so hießen die Kinder um 2010)! Und schon schellt das rote Telefon im Schulleiterbüro, damals noch ungegendert. Mit den bekannten Folgen: „Herr Schreiner-Schmidtke, bitte beim Chef melden, dringend!“ Kurzum: Es musste ein Medienkonzept her und damit eine Antwort auf die Frage, wie wir möchten, dass unsere Schüler*innen mit den digitalen Endgeräten und ihren Inhalten umgehen. Und viel dringender noch, was wir NICHT möchten.

Und die Metamorphose vollzieht sich mit rasender Geschwindigkeit: Heute, 2022, hat der Anteil der Schüler*innen, die standardmäßig mit Tablet statt Papier und Bleistift arbeiten und beim Verteilen der Arbeitsblätter abwinken, in manchen Kursen die 50-Prozent-Marke geknackt. Da müssen viele liebgewonnene Gewohnheiten des Pädagogen auf den Prüfstand: Wie sammelt man Mappen oder Hausaufgaben ein, wenn alles digital sortiert ist? Ist das Konzept der Mappenführung überhaupt noch zeitgemäß? Vermessen wir den Quader im Geometrieunterricht noch mit dem Holzlineal oder halten wir den Kasten einfach vor die allwissende Computerlinse, die uns Flächeninhalt und Volumen frecherweise noch gleich mitliefert? Während ich diese Zeilen schreibe, teste ich nebenbei eine KI, die per Worteingabe Bilder zeichnet. Bilder, die nicht nur künstlich, sondern auch künstlerisch sind. Im Ernst, ich habe mir vorgenommen, sie abzulehnen – aber sie sehen fantastisch aus!

Also schlagen zwei Herzen in meiner Brust, das eine auf hundertachtzig („Kuck ma! Kuck ma! Wie einfach ist das denn?!“), das andere im Nostalgie-Blues („Aaaach, früher…! Früher!“). Momentan hat aber die Neugier die Oberhand. Ein Gefühl, das man nicht digitalisieren kann. Sehr beruhigend.

Und übrigens: Ich habe nie auch nur eine einzige Hausaufgabe mit dem alten Rechner gemacht.

* siehe auch Episode 109: „Video killed the Fließtext star“

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