Viel ist hier schon geschrieben worden über Unterrichtsstörungen, Begriffsstutzigkeit oder enervierende Endlosdiskussion von Seiten der Schüler*innen. Doch es gibt eine Frage, die an den Grundfesten jedes lehrenden Personals rühren muss, die Gretchenfrage aller schulischer Pädagogik und jeglichen Unterrichts.
„Wofür brauchen wir das?“
Die Frage taucht interessanterweise niemals nach einer erfolgreichen Klassenarbeit oder einer gelungenen Gruppen-Präsentation auf, sondern immer in den Jammertälern des alltäglichen Unterrichts, geäußert von Verzweifelten, die damit ihre kognitive Dissonanz aufzulösen versuchen: Warum sollte ich mir damit noch mehr Mühe geben, wo ich doch ohnehin nichts damit anfangen kann?
Natürlich kann man sich als Lehrperson dafür pseudo-schlagfertige Antworten zurechtlegen, etwa „Damit ich nicht arbeitslos bin!“, „Damit du später auch Lehrer werden und deine Schüler ärgern kannst!“ oder „Damit du bei der Abschlussfeier damit angeben kannst!“ Wer Interesse hat, ich kann eine Liste zusammenstellen. Damit mag man sich grinsend aus der Affäre ziehen, aber das innere Nagen lässt sich so nicht ruhigstellen. Doch nicht verzagen und Mr. HO fragen – denn auch mir sitzt diese Frage im Prinzip seit 124 Episoden im Nacken und ich hoffe, mit dem heutigen Text (und, seien wir ehrlich, auch mit dem nächsten – das wird ein dickes Brett!) ein für alle Mal Schluss damit machen zu können. Also, auf geht’s!
Doch zunächst muss man sich in die Gedankenwelt einer Lehrkraft einfühlen, gerade derer, die noch nicht so lange dabei sind und die noch Zweifel beschleichen: Kann es sein, dass das kunstseidene Mädchen, das uneigentliche Integral, die elektrophile Substitution, der Zitronensäurezyklus, der Dadaismus oder sogar der Stufenbarren in Wirklichkeit reine Schikane sind? Und tatsächlich: Klopft man das Curriculum auf seine Nützlichkeit für das tägliche Leben hin ab, fallen doch teilweise ganze Schuljahre in sich zusammen. Ist also Kritik der folgenden Art berechtigt, wie sie sich regelmäßig aus dem Meinungsgewusel der sozialen Medien erhebt: Man könne nun Gedichte in drei Sprachen interpretieren, Volumina von Körpern berechnen, die durch Rotation um die x-Achse zustande gekommen sind, und die Herrschaftsdaten sämtlicher Habsburger herunterbeten – sei aber nicht in der Lage, einen Mietvertrag abzuschließen, einen Flug zu buchen oder eine Steuererklärung anzufertigen. Wieso habe das die Schule nicht gelehrt? Um das zu verstehen, ist ein kurzer Ausflug in die Geschichte des Begriffs „Allgemeinbildung“ notwendig – denn dessen Entwicklung ist bemerkenswert.
Beginnen darf man wohl mit Comenius, der im 17. Jahrhundert erstmals forderte, allen müsse alles in Gänze gelehrt werden (die Vorgängerversion war in etwa „wenigen einiges so mittel“) Dies nahmen die Kleinstaaten des Heiligen Römischen Reichs dankbar auf, um über die Einführung der Schulpflicht den Bürger zur Disziplin zu erziehen, nach dem Motto: Was da gelehrt wird, ist erstmal nicht so wichtig, Hauptsache, die Leute lernen, still zu sitzen. Dann kam die Aufklärung und mit ihr Kant, der forderte, dass Allgemeinbildung notwendig für die Emanzipation des Menschen sei. Das warf die Frage auf, welche Kenntnisse denn dafür notwendig seien. Tja, sagten die Humanisten, Sprachen natürlich, also Deutsch, Latein und Griechisch, alles andere ist Gedöns. Und so dauerte es sehr lange, bis wieder auch andere Fachinhalte und teilweise sogar praktische Kenntnisse und Fähigkeiten ins Curriculum einsickerten. Schule als Vorbereitung fürs Berufsleben also (in Konkurrenz zum vergeistigten Gymnasium, das sich die Studierfähigkeit so groß auf die Fahne schrieb, dass kaum etwas anderes mehr draufpasste), und da war der Schritt von Schule als Vorbereitung fürs „richtige“ Leben kein großer mehr. Die Erwartungshaltung wurde umgekehrt, und außerdem war dieses „richtige“ Leben mittlerweile ziemlich kompliziert geworden. Auf die drängenden Fragen von heute konnte doch der Fächerkanon von Comenius nicht mehr die passenden Antworten liefern, oder?
Doch dann kam Wolfgang Klafki, der den pädagogischen Tisch mit großer Geste abräumte und neu eindeckte (zugegeben, da stand noch jahrhundertealte Marmelade drauf und das Besteck spottete jeder Beschreibung): Allgemeinbildung ist das Vergangene und das Gegenwärtige, das sich miteinander ergänzt. Allgemeinbildung zeigt die Schlüsselprobleme unserer Generation auf. Allgemeinbildung befähigt die Schüler*innen, über sich selbst zu bestimmen und in der Gesellschaft mitzubestimmen. Allgemeinbildung entwickelt Interessen und Kompetenzen auf mehreren Ebenen und schaut nicht immer nur auf das Ziel, das Produkt, sondern auch auf den Weg dorthin.
Klingt super. Kann jeder sofort unterschreiben. Beantwortet aber noch nicht die oben gestellte Frage.
Aber es gongt gerade – also, bis nächste Woche! Und ich werde nachfragen, was wir gemacht haben!