So, was haben wir letzte Stunde gemacht? Wer weiß es noch?
Jaja, keine Ahnung und euch ist sowieso nicht klar, wozu wir das überhaupt machen?
Bingo.
Warum muss ich zum Beispiel den Satz des Pythagoras kennen?
Weil er ein Kulturgut ist und die Menschen befähigte, unzugängliche Strecken zu messen.
Weil er unabhängig voneinander zu unterschiedlichen Zeiten von verschiedenen Völkern entdeckt wurde. Weil man an den über 400 Beweisen, die dazu existieren, mathematisch-logisches Denken erproben kann. Weil man damit irrationale Zahlen kennenlernt und sein Verständnis der Welt schärft.
Weil man an der Legende von Hippasus, der diese irrationalen Zahlen von rationalen unterschied und dafür von den Pythagoreern ertränkt worden sein soll, viel über den menschlichen Glauben und (Un-)Verstand lernen kann.
Weil er eine universelle Wahrheit ausdrückt, die auf jedem Planeten gilt, und sei er noch so weit entfernt. Weil er die Grundlage für zahlreiche andere naturwissenschaftliche Prozesse bildet.
Ich könnte noch ewig so weitermachen. Und jede Lehrkraft könnte das mit ihrem Thema. Jeder Lerngegenstand ist ein Kaleidoskop. Kaleidoskope kann man prima ins Regal stellen und sammeln. Oder man kann durchgucken und drehen. Stundenlang.
Und dann ist da noch diese zweite Ebene: Indem ich mich mit dem Satz des Pythagoras auseinandersetze, trainiere ich meine Ausdauer, meine Frustrationstoleranz, meine Genauigkeit, mein räumliches Vorstellungsvermögen. Das könnte ich natürlich auch an anderen Dingen. Und damit eröffne ich den Kritikern der Allgemeinbildung die schwächste Flanke, die da lautet: Sollten wir nicht viel mehr Schüler*innen gezielt in den Fächern unterrichten, in denen sie stark sind, anstatt ihnen den Rest auch noch zuzumuten? Warum muss der analytische Denker sich mit Musik und Kunst plagen? Warum das Sprachengenie mit Naturwissenschaften? Warum die Künstlerin mit Sport? Werde ich nicht, indem ich meine Schwächen stärke, gleichzeitig meine Stärken schwächen? Heißt es nicht, man solle seinen circle of competence finden und sich darin einrichten? Könnte also nicht die am Programmieren interessierte Schülerin ihrem Ziel näher kommen, wenn sie nicht zwei Stunden Informatik pro Woche hätte, sondern, sagen wir, fünfzehn? Könnte der sprachaffine Schüler mit dem Erreichen der 10. Klasse mit einem native speaker gleichziehen, wenn er den ganzen Tag nur Englisch hören und reden würde? (Habt ihr’s gemerkt, ich habe die Stereotype vertauscht. Hihi!)
Hey, ich will nichts hören von Machbarkeit und Grenzen des Bildungssystems! Das Argument zählt nicht – und zeugt obendrein von Visionsarmut und Lustlosigkeit.
Nein, etwas anderes lässt die pädagogischen Träume platzen: Die Wandelbarkeit des jugendlichen Geistes. Wenn man, als ich in der 9. Klasse war, auf meinen damaligen Berufswunsch gehört hätte, hätte ich mich nonstop mit Sigmund Freud, C. G. Jung und Noam Chomsky beschäftigen dürfen. Wie froh war ich, als ich in der Oberstufe Kunst-LK wählte und sich mir dort ein neues Betätigungsfeld erschloss. Dass ich gleichzeitig Mathematik nicht abwählen durfte, hat auch nicht geschadet, denn zum Studiengang Produktdesign wurde ich nicht zugelassen, dafür aber zum Lehramt. Lange Rede, kurzer Sinn: Wir dürfen nicht aufhören, unseren Schützlingen Angebote über Angebote zu machen. Legen wir sie zu früh auf eine gerade aktuelle Schwärmerei fest, blockieren wir ihren Menschwerdungsprozess. Eine Schwäche stellt sich vielleicht als verschüttetes Talent heraus, das nur zur richtigen Zeit von der richtigen Lehrperson freigelegt werden muss, eine Stärke vielleicht als Hobby, das man zwei Jahre nach dem Abitur aufgibt und froh ist, keinen Beruf daraus gemacht zu haben.
Und damit sind wir wieder am Anfang angekommen. Also genauso weitermachen wie bisher? Bitte nicht! Nicht Augen zu, den eigenen Stiefel durchziehen und bei Anfragen blind auf den Lehrkanon verweisen. Sondern hinsehen und ausloten, ob die eigenen Fächer vielleicht eine Chance sein können. Und wenn nicht, eine Chance schaffen. Das könnte vielleicht sogar Comenius unterschreiben.