Ich mag diesen Mann nicht.
Ich muss ihn wohl besser kennenlernen.
- Abraham Lincoln
Wie eigentlich jede lehrende Person kann auch ich es kaum fassen, dass es da draußen tatsächlich Schülerinnen und Schüler gibt, die meinen Fächern nicht dieselbe Liebe entgegenbringen wie ich. Unglaublich, aber wahr. Gerade erst wieder erlebt: Ich stehe als Ansprechpartner an der Infowand zur Vorstellung des naturwissenschaftlich-mathematischen Profils in der Oberstufe wie ein Autoverkäufer, der nur noch den einen alten Toyota anzubieten hat, aber absolutes Liebhaberstück, gucken Sie mal hier, sowas wird heute gar nicht mehr gebaut! Viel Publikum habe ich nicht, während die anderen Präsentationsstände vor ausverkauftem Haus spielen. Später nähern sich vorsichtig Zweiergrüppchen – bis sie die Abiturklausur erspäht haben, die ich zur Abschreckung aufgehängt habe: „Oh, nein danke! Das kann ich gleich vergessen!“ Auch meine aufmunternden Worte und Verweise auf den kurzen Selbsttest, den ich aufgehängt habe („Bist du fit für’s naturwissenschaftliche Profil?“), laufen größtenteils ins Leere: „Hey, hiermit kannst du testen, ob du mit deinem Wissen aus Klasse 11 im mathematischen Schwerpunkt erfolgreich sein kannst!“ – „Die Antwort kenne ich schon seit Klasse 5!“ Okay, Abbruch, nächster Kunde.
Über die gesellschaftliche Herabwürdigung des Faches Mathematik habe ich mich schon an anderer Stelle ausgelassen, ohne eigentlich zu sagen, welche Argumente auf der Habenseite stehen.
Zugegeben, Mathematik ist kein Everybody’s darling, der dich auf der Party mit offenen Armen empfängt und dir erstmal etwas zu trinken anbietet. Mathe ist dieser etwas verschrobene Typ in der Ecke, dem seine langen Haare so halb ins Gesicht hängen und der sich seit einer halben Stunde an seiner Bierflasche festhält. Du musst dich schon zu ihm setzen, denn er wird sich niemals zu dir setzen. Ein Gespräch anzufangen fällt auch nicht leicht, er ist nicht so der Smalltalktyp. Und ja, wenn du Pech hast, wird er anfangen, wirklich merkwürdige Sachen zu erzählen, die du weder verstehen kannst noch willst. Dazu kommt noch, dass er etwas streng riecht, den Pullover hat er wohl schon eine Weile an.
Aber überwindest du all diese Hürden und hörst ihm ein bisschen zu, stellst du fest, dass viel Wahrheit in seinen Worten liegt, uralte Wahrheit, ewige Wahrheit, die er dir über den Bass der Musik hinweg zuraunt: Verborgene Zusammenhänge, unendliche Welten, faszinierende Muster, eine Matrix im Hintergrundrauschen des Universums, ein allumfassender Code, den nur diejenigen lesen können, die den speziellen Blick dafür haben. Dies ist übrigens ein Alleinstellungsmerkmal des Fachs: der mathematische Blick, der einem etwa sofort signalisiert: Das ist eigentlich eine binomische Formel, nur in Verkleidung einer e-Funktion. Gibt es so in keinem anderen Fach, oder habt ihr schonmal vom geografischen Blick oder vom Deutsch-Blick gehört?
Nach einer Weile trennt ihr euch wieder, du und der seltsame Typ. Du findest ihn immer noch creepy, wie du im Gespräch mit den anderen Party People versicherst. Aber du hast das Gefühl, ihn ein Stück weit verstanden zu haben. Nicht so sehr, um auf seine Seite zu wechseln. Aber genug, um ihn zu mögen. Du blickst verstohlen über die Schulter zu ihm hinüber, er fängt deinen Blick auf und lächelt.
Und wenn du eine solche Begegnung noch nicht hattest – hier kommt das niedrigschwelligste Angebot, das ich bisher gefunden habe: Das Video „Animation vs. Math“ auf YouTube. Die Story ist schnell erzählt: Ein Strichmännchen entdeckt auf, äh, handlungsorientierte Weise die Welt der Mathematik und gerät in Konflikt mit dieser. Weiter spoilern will ich nicht – einfach angucken! Und selbst wenn man die zahlreichen mathematischen Easter Eggs nicht versteht, ist es immer noch ein guter Actionfilm.
Solche Sachen machen wir selten im naturwissenschaftlichen Profil – aber wir lachen gemeinsam darüber!