Federnd betritt der Lehrer den Klassenraum des Leistungskurses*, schlenzt lässig die Tasche ans Pult, hält erstmal ein kleines Schwätzchen mit den Profis aus der ersten Reihe über die Highlights und No-gos des vergangenen Wochenendes, bevor er sich dann der Tafel zuwendet und unter coolem Grinsen die Einführungsaufgabe anpinselt („Man gucken, wer die wohl knackt!“).

Es herrscht lockere Atmosphäre, die Schülerschaft des Kurses geht gleich in den informellen Austausch der relevanten Aufgabendaten, während der Lehrer wie Winnetou den Blick über seine Indianer schweifen lässt, manchem gut zuredet und euphorisch Lob für kreative Lösungsansätze verteilt. Kurzum: Man ist im Flow. Niemand braucht hier die strengen Fesseln von Lehrer-Schüler-Distanz, Unterrichtsphasen oder Lernfortschrittskalendern. Man tauscht sich aus, philosophiert über vierdimensionale Räume und Filme von Christopher Nolan, die Sonne scheint ins Klassenzimmer – so viel Spaß kann ein Beruf machen!

Dann aber verändert sich die Stimmung, so sanft und doch so unverrückbar wie der letzte Tag des Sommers, an dem die aufziehenden Wolken lächelnd verkünden: Es wird jetzt Herbst. Verabschiede dich von der Wärme. Du wirst sie lange nicht wiedersehen.

Das erste Wölkchen ist die Zensurenkladde, die der Pädagoge erst zur Hand und dann unter Murmeln („Wir müssen mal euren Leistungsstand besprechen.“) mit auf den Flur nimmt, zusammen mit einem Stuhl und der alphabetisch ersten Schülerin des Kurses. Draußen auf dem Flur dann, in der Einsamkeit des Dialogs, ist die Spannung mit Händen zu greifen. 

„Wie schätzt du dich denn selbst ein?“
„Naja, ich dachte so an acht, neun Punkte.“
„Hmm, also danach sieht es bei mir momentan noch gar nicht aus. Du hast ja sechs geschrieben…“
„Aber mündlich bin ich im Zweierbereich, das haben Sie letztens noch gesagt.“
„Ist richtig, aber das war vor fünf Wochen… Also ganz ehrlich, ich sehe dich im Moment höchstens bei sieben. Höchstens.“

 

* Landläufig immer noch so genannt. Up-to-date-Pädagogen bevorzugen die politisch korrekte Variante „Kurs auf erhöhtem Anforderungsniveau“.

„Mhm. Ja, nee, ist schon gut. Aber ich wollte nur sagen: Wie kommt es dann, dass Anna mehr bekommt als ich?“
„Das kann man nun wirklich nicht vergleichen, ihr seid ganz unterschiedliche Charaktere…“

Vom Sonnenschein der gegenseitigen Wertschätzung gerade eben ist nur noch ein dünnes Fünkchen übrig geblieben. Man sitzt jetzt am Verhandlungstisch, es fallen Wörter wie „Referat“, „Elternsprechtag“ und „doch noch sechs Wochen bis zu den Zeugnissen“. Und dem Pädagogen graut es schon davor, der nächsten Schülerin zu eröffnen, dass sie gerade qua sozialer Vergleichsnorm herabgestuft wurde. Schmerzlich wird dem Lehrer nun bewusst, dass es echte Freundschaft zwischen Prüfer und Geprüftem nicht geben kann. So gerne wäre er Coach, der sein Team beim Pflichtspiel anfeuert und zu Höchstleistungen antreibt, um es dafür nachher zu belohnen. Dafür hat er all das doch studiert, oder? Doch nun muss er einsehen: Er selbst ist der Gegner.

Schule unterscheidet zwischen Lern- und Leistungssituationen. Gut so. Leider werden beide von derselben Person moderiert. Ginge da nicht was beim Kultusministerium? Zentral vergebene Klausuren? Anonymisierte Fernprüfer? Dann wäre man tatsächlich Coach. 
Schnappt sie euch, Tiger!