Immer diese Naturgesetze. Die können einem auch alles vermiesen. Da finde ich neulich in meinem Lateinbuch (sic!) eine beunruhigende Kurve, die den Prozentsatz noch vorhandenen Wissens nach dem Lernen abhängig von der seitdem vergangenen Zeit beschreibt. Also: Wieviel Wissen ist nach Ablauf von einem, zwei, drei Tagen noch im Kopf. Sagen wir mal so: Als Wasserrutsche würde diese Kurve aufgrund ihrer gefährlichen Neigung durch keinen TÜV kommen. Um die Dramatik noch zu erhöhen, verändert die Fläche unter der Kurve (das behaltene Wissen) im Laufe der Zeit ihre Farbe von neutralblau zu alarmrosa. Die Botschaft ist klar: Fang heute noch an zu wiederholen! Oder willst du, dass dein Wissen rosa wird?!

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Man spricht bei solchen Kurven von exponentiellem Zerfall, d.h. pro Zeiteinheit verringert sich eine bestimmte Größe immer um denselben Prozentsatz. Die bekannteste Anwendung ist der radioaktive Zerfall bestimmter chemischer Elemente, die durch ihre spezifische Halbwertszeit gekennzeichnet sind.

[Klugscheißermodus aus]

So wie sich also das Plutonium von Tschernobyl allmählich (sehr, sehr allmählich) verflüchtigt, so wie sich bestimmte Medikamente im Blut langsam abbauen, so wie Vaddis neue Familienkutsche nach zwei Jahren nur noch die Hälfte wert ist und nach vier Jahren nur noch ein Viertel, so schmilzt auch das Wissen unweigerlich aus dem Hirn. Doch während Vaddi beim Blick auf die Schwacke-Liste Tränen in die Augen bekommt, hinterlässt der Wissensschwund nur ein dumpfes, aber nicht unangenehmes Gefühl („Müsste ich das nicht eigentlich wissen? Ach, egal.“). Kleiner Test gefällig? Wo habe ich die Lernkurve gefunden? Na? Sehnse – das Wissen war gerade mal 30 Sekunden alt und ist schon die rosa Rutsche hinuntergeflitzt. Aber wen kümmert’s – das kann man ja bei Bedarf nochmal nachlesen. Womit wir beim Mantra der Googlianer und Wikipedesen wären, mit dem man das 21. Jahrhundert getrost in einem Satz zusammenfassen könnte: „Man muss nichts wissen, man muss nur wissen, wo es steht.“ Ich kenne Lateinschüler (und innen), die die Bedeutung bestimmter Vokabeln nicht mehr aufsagen können, dafür aber noch genau wissen, aus welcher Lektion sie stammen. Quod erat demonstrandum.

Mit dieser argumentativen Allzweckwaffe gerüstet, diskutiert die Schülerschaft jeden Versuch, ihr Langzeitgedächtnis mit sinnvollem Inhalt zu füllen, zu Boden. Und natürlich muss man im Evaluationszeitalter, in dem wir uns befinden, gerade in der Schulpädagogik mit ihren doch arg eingefahrenen Strukturen jeden Stein umdrehen dürfen, auch wenn dadurch mal eine Grundmauer einstürzt: Ist Auswendiglernen noch zeitgemäß? Haben Schillers „Bürgschaft“, Bonhoeffers „Von guten Mächten“, Mendelejews Periodensystem der Elemente einen eigenen, unverrückbaren Wert, der diese Verankerung im Dauerspeicher legitimiert? Nicht nur die Altvorderen, auch Hirnforscher sagen: ja – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Was dem Traditionalisten der Stolz beim Aufsagen des Eingebimsten, ist dem Wissenschaftler der statistische Beleg der Verbesserung von Denk- und Speicherprozessen, nicht zuletzt die Vorbeugung von Demenzerkrankungen. Denn treibt man eine solche Entwicklung auf die Spitze, endet man bei Leonard, dem Protagonisten des Films „Memento“, der nicht in der Lage ist, irgendwelche neuen Erinnerungen zu bilden und sich vollständig auf schriftliche Informationen verlassen muss – vorzugsweise solche, die er sich selbst auf seinen Körper tätowiert hat, um nicht getäuscht werden zu können.

Was also tun gegen die digitale Verblödung? Weiterlernen, wiederholen, vernetzen, anwenden, hinterfragen, ganz egal, was der innere Schweinehund sagt! Neugierig sein auf Dinge, die hinter dem persönlichen Horizont liegen (denn da geht’s ja bekanntlich weiter…)! Und, vielleicht am wichtigsten: Anerkennen, dass Gelerntes über den bloßen beruflichen oder privaten Anwendungsnutzen hinaus wertvoll ist.