Es ist 1984 und im Radio läuft der neueste Hit: „Self control“ von Laura Branigan. Cooler Song, klingt irgendwie nach Urlaub – o ho ho! Und auch der Titel passt meiner Meinung nach dazu: „Surf control“. Wahrscheinlich ein Lied über die totale Beherrschung des Surfbretts, denkt sich der Vierjährige.

Und dann muss ich keine zehn Jahre später erfahren, dass es gar nicht ums Surfen geht! Und nochmal dreißig Jahre später, dass da eine Frau davon singt, dass sie nur nachts wirklich lebt, weil sie ihrem Liebhaber so sehr verfallen ist. Ach, schade, ich hätte mich gerne der Illusion der coolen Surferin weiter hingegeben.

Das ist das Tragische an Information: Manchmal weiß man nicht, ob es besser ist, über sie zu verfügen oder eben gerade nicht. Meistens möchte man das ja unbedingt. Gerade in unserem Beruf ist Information die einzig harte Währung, die sinnvolles Arbeiten erst möglich macht (okay, abgesehen vom Geld): Ist morgen in den ersten beiden Stunden Tutorenunterricht vorgesehen? Macht der siebte Jahrgang am Donnerstag während meines Unterrichts eine Jahrgangsexkursion? Wieviele Abiklausuren werden dieses Jahr über meinen Schreibtisch wandern? Welche neue Schülerin werde ich morgen in meiner Klasse begrüßen? Alles gern genommen, egal über welchen Kanal, vom störanfälligen Flurfunk über das Tür-und-Angel-Gespräch bis hin zur rechtsverbindlichen E-Mail aus der Zentrale. Watzlawick sagt, man könne nicht nicht kommunizieren. Ich bin der Meinung, man kann nicht genug kommunizieren.*

Bild Mr. HO 156

Aber dann gibt es diese Kategorien von Information, auf die man verzichten könnte. Zum einen störender, nicht relevanter akustischer oder schriftlicher Datenmüll**, zum anderen Dinge, die man vielleicht lieber gar nicht gewusst hätte. AKA die harte, schonungslose Wahrheit. Weil man die Person, die sie ausgesprochen hat, danach mit anderen Augen sieht. Weil man plötzlich gezwungen ist, sich damit auseinanderzusetzen oder sich sogar irgendwie zu positionieren. Weil man das, was man gerade gehört hat, einfach nicht ignorieren und zur Tagesordnung übergehen kann.

Wenn die deprimiert dreinblickende Schülerin leise murmelt, sie sei noch nie für irgendetwas gelobt worden. Wenn die Kollegin ungefragt ihre politische Meinung äußert und sich damit plötzlich in einem ganz anderen Lager verortet als man dachte. Wenn am Ende von sechs gemeinsamen Jahren der Schüler nicht ohne gewissen Stolz gesteht, er habe in der Mehrzahl der geschriebenen Tests geschummelt.

Aua, das hat gesessen. Man möchte irgendwie zurückspulen, die Erinnerung an das Gehörte löschen oder sich zumindest die Ohren zuhalten und laut anfangen zu singen. Ignorance is bliss, truly. Erkannt und in ein Gedicht gebannt hat diese Erkenntnis Thomas Gray, ein englischer Dichter des 18. Jahrhunderts. Er beschreibt darin – wie passend – das Glücksgefühl des Schulabsolventen beim Gedanken an seine Kindheit, bevor er den Weg der Bildung beschritt.

Das Problem ist ja im Guten wie im Schlechten, dass man den Geist nicht wieder in die Flasche bekommt. Gezieltes Vergessen von Informationen, das geht leider nicht. Obwohl ich den Verdacht habe, dass einigen Schüler*innen da ein Durchbruch gelungen ist.

Doch ist der erste Schrecken überwunden, kann der Geist mit dem Sich-Arrangieren beginnen. Das ist allemal besser, als für alle Zeiten der Naivling zu sein, der in seiner Traumwelt lebt. Und im vielleicht geht einem selbst dann ja auch die eine oder andere bittere Wahrheit leichter über die Lippen. Nimm dies, Umfeld!

* Damit darf man mich gerne zitieren oder sein Büro schmücken.

** vgl. Episode 24: „Infokalypse now!“